Braucht Deutschlands Automobilbranche neue Berater?
Ein Gastbeitrag von Dr. Stephan Melzer und Prof. Dr. Martin Przewloka, minnosphere GmbH
Fast eine Million Beschäftigte, mehr als 400 Milliarden Euro Umsatz im Jahr – die Automobilindustrie ist ohne Frage eine der Schlüsselbranchen unseres Landes. Deutsche Automobile sind der Inbegriff von Ingenieurskunst, Qualität und Innovation. Oder aus heutiger Sicht: waren es, denn die Branche hat ein Imageproblem. Mit ihrem beharrlichen Festhalten am Verbrennungsmotor im Allgemeinen und der Dieseltechnologie im Speziellen gilt sie vielen als Bremser einer nachhaltigen Entwicklung. Versuche, auf politischer Ebene den gesellschaftlichen Wandel hin zur Elektromobilität zu verzögern, tun ihr Übriges.
Dieses Bild ist jedoch nur die halbe Wahrheit, denn in vielen innovativen Bereichen wie der Robotik oder dem autonomen Fahren stehen deutsche Autobauer nach wie vor ganz vorne an der Spitze des Fortschritts. Forschung und Entwicklung finden jedoch noch viel zu oft im Stillen und unter rigorosem Ausschluss von Öffentlichkeit und Konkurrenz statt. Innovation lebt jedoch von Offenheit, das zeigen die Erfolge im Silicon Valley und anderen amerikanischen Zentren des Fortschritts ganz deutlich, in denen Unternehmen und Universitäten Ideen und Informationen weit freier austauschen als dies bei uns üblich ist. Wir brauchen zudem offene Schnittstellen, um gemeinsam modul- und unternehmensübergreifend die Dinge voranbringen zu können. Um über die bereits erwähnten offenen Schnittstellen Informationen austauschen zu können, müssen wir zukünftig mehr in Komponenten und Baugruppen denken. Eine nach diesen Regeln agierende „Open Innovation“-Bewegung könnte genauso erfolgreich sein wie der Open-Source-Ansatz in der Software-Entwicklung.
Offenheit, Agilität und Innovationsfreude können aber nur gedeihen, wenn sich die Kultur in den Unternehmen verändert. Hierarchien müssen abgebaut, die Verantwortungen in die Teams übertragen werden. Auch der Umgang mit Fehlern ist zu überdenken. Um aus ihnen wirklich lernen zu können, darf man sie nicht verschweigen und unter den Teppich kehren, sondern muss sie benennen, ja geradezu als wichtige Informationsquelle erkennen.
Unternehmensberatung der Zukunft
Diese Transformation wird sich in den Anforderungen an die zukünftigen Unternehmensberater in der Automobilindustrie widerspiegeln. Wir brauchen auch in der Beratung einen offenen Austausch von Wissen und Erfahrungen mit dem Ziel der Steigerung der Innovationsfähigkeit, statt sich einseitig und ausschließlich auf Effizienzsteigerung zu konzentrieren.
Heute sind Unternehmensberater darauf spezialisiert, Einsparpotenziale sowie Möglichkeiten zur Prozessoptimierung zu identifizieren. Sie konzentrieren sich daher gerne auf Kennzahlen, mit denen sich die Leistung eines Unternehmens und deren Steigerung scheinbar objektiv messen lassen. Dabei ist es keine Frage, dass Kennzahlen zur Steuerung eines Unternehmens eine wichtige Rolle spielen. Wer den Erfolg seiner Entscheidungen und des Handelns nicht misst, arbeitet quasi im Blindflug. Die Konzentration auf Kennzahlen und deren Messung hat jedoch auch einen gravierenden Nachteil: Der Fokus liegt zu stark auf der Erzielung kurzfristiger Erfolge. Langfristige Investitionen und das Eingehen sinnvoller Risiken geraten aus dem Blick, was sich wiederum negativ auf die Innovationsfreude und -fähigkeit eines Unternehmens auswirken kann. Es liegt in der Natur der Sache, dass neue Dinge zunächst einmal unreif, ineffizient und fehlerhaft sind – das gilt für neue Produkte ebenso wie für neue Geschäftsmodelle. Sie verschlechtern daher zwangsläufig zunächst einmal die Bilanz. Auch lassen sich in neuen Geschäftsfeldern Risiken und Rückschläge nicht vermeiden. Wirklich Neues wird daher durch zu enge Budgetvorgaben und starre Fünfjahrespläne verhindert oder erschwert.
Wir brauchen deshalb in der Beratung einen neuen Ansatz, der neben den Kennzahlen auch die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens bewertet. Strömungen wie Design Thinking und agile Entwicklung sind keine Allheilmittel, sie sind aber wichtige Bausteine, die zukünftig von Beratern beherrscht und eingesetzt werden müssen, um eine neue Innovationskultur zu fördern. Nicht eine 30-jährige Erfahrung in der Automobilbranche, nicht Spezialistentum und Expertenwissen dürfen im Vordergrund stehen, sondern die Bereitschaft zu vernetztem Denken und bereichsübergreifendem Handeln. Die dafür notwendigen Fähigkeiten kann man heute leider nur an sehr wenigen Bildungsstätten lernen, denn deutsche Ausbildungs- und Studiengänge fördern den hochgradig spezialisierten Experten, der von sehr wenig sehr viel weiß. Wir brauchen wieder vermehrt ein Studium Generale, das die Perspektive weitet und den Blick über den Tellerrand des eigenen Spezialgebiets hinaus ermöglicht, auch und gerade für die Studierenden, die eine Laufbahn in der Unternehmensberatung anstreben.
Fazit
Nur wenn es der deutschen Automobilindustrie und den dort wirkenden Beratern gelingt, diese Transformation zu leisten, wird sie auch im Zeitalter der Elektromobilität noch die Vorreiterrolle spielen können, die sie in den vergangenen 50 Jahren innehatte. Berater, die diesen Prozess begleiten und vorantreiben, benötigen einen weiten Blick, eine multidisziplinäre Ausbildung, ausgesprochen hohe Kommunikationsfähigkeiten und vor allem den Willen, mehr als nur Kennzahlen zum Ziel ihres Handelns zu machen und neue Wege zu gehen. Vieljährige, hochspezialisierte Branchenerfahrung wird dabei in den kommenden Jahren immer weniger die entscheidende Rolle spielen.
Über die Autoren
Dr. Stephan Melzer ist Geschäftsbereichsleiter Automotive in der msg-Gruppe und Geschäftsführer des msg-Innovation-Labs minnosphere GmbH; Prof. Dr. Martin Przewloka, Chief Digital Officer bei minnosphere, ein Start-up der msg-Gruppe.