Orientierung gesucht

Arbeitsunfähigkeitszeiten aufgrund psychischer Erkrankun­gen nehmen stetig zu. Prävention durch betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) und betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) ist gefragter denn je.

Die Zahlen sind schockierend: Nach Angaben der Initiative „Neue Qua­lität der Arbeit“ (INQA) ist in den letzten Jahren die Zahl der psychisch bedingten Krank­heitstage auf über 60 Millionen angestiegen; 43 Prozent aller Frühverrentungen gehen auf psychische Erkrankun­gen zurück. Noch alarmierender sind die Zahlen der Bundesregierung, die den Schaden für die deutsche Volkswirtschaft im Jahr 2008 auf knapp 100 Milliarden Euro bezifferte – das entspricht etwa dem Bruttoinlandsprodukt Marokkos. Allein die direkten Kosten für psychische Erkrankungen liegen laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin bei rund 16 Milliarden Euro pro Jahr. „Die Krankenkassen ver­zeichnen seit geraumer Zeit eine stetige Zunahme der Arbeitsunfähigkeitszeiten aufgrund psychischer Erkrankungen“, berichtet Professorin Andrea Pieter von der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement. Mit einem Anteil von 16,6 Prozent an den Arbeitsunfähigkeitstagen im Jahr 2014 sei laut DAK der Anteil der Fehltage in diesem Bereich zum Vorjahr erneut angestiegen“, so die Professorin für Gesundheitsmanagement.

Führungskräfte sensibilisieren

Die Gründe sind vielfältig. Risikofaktoren betreffen nach Einschätzung Pieters vor allem Arbeitsaufgaben und -inhalte, bspw. routinemäßige Tätigkeiten mit niedrigem Anforderungsniveau. Auswirkungen haben Störungen im Arbeitsverlauf durch Telefon, E-Mail, aber auch Lärm, ein ungünstiges Raumklima oder zu große Enge. Schließlich wirken sich auch gestörte Be­ziehungen zum Chef und zu Kollegen, die Unsicherheit des Arbeitsplatzes, prekäre Beschäftigung und hohe Flexibilitätsanforderungen ohne ausreichende soziale Unterstützung negativ aus. Klar ist, BGM ist eine Leitungs­aufgabe. „Die Führungskraft kann psychische Belastungen wesentlich forcieren oder eben auch erheblich min­dern“, sagt Professorin Pieter. „Führungskräfte sind in diesem Kontext dafür zu sensibilisieren, dass sie Fähigkeiten und Kom­petenzen erwerben, um Fehlbelas­tungen auf Seiten der Mitarbeiter abzubauen, psychische Gefährdungen zu erkennen und zu beseitigen sowie die Beschäftigten im Umgang mit Stresssymptomen zu unterstützen.“ Doch auf­gepasst: Nur ausgeglichene und gesunde Führungskräfte können ihre Mitarbeiter unterstützen. Nichts ist gewon­nen, wenn mit Blick auf die Unternehmens­ziele die Gesundheit der Führungskräfte selbst leidet, denn der Führungskraft kommt nach Einschätzung Pieters gera­de im Hinblick auf das Thema Gesund­heit „eine sehr große Vorbildfunktion im Unternehmen“ zu: „Führungskräfte sollten Fähigkeiten und Kompetenzen erwerben, die eine gesundheitsförderliche Führung ermöglichen.“

Trendtools

  • E-Learning
    Die RWTH Aachen hat im Rahmen der Kooperation von psyGA ein kostenloses E-Learning-Tool zur Förderung psychischer Gesundheit für Führungskräfte entwickelt. Es liefert leicht verständliche Vorschläge, wie Führungskräfte ihre Mit­arbeitenden vor stress­bedin­g­ter Überlastung schützen und selber gesund bleiben können. Das Tool läuft zudem als App auf diversen mobilen Endgeräten. http://psyga.info
  • Web-Psychotherapie
    net-step ist eine innovative, bundesweit bedarfsorientierte Therapieform, in der Menschen mit dem Erkrankungsbild der sozialen Phobie, Depressionen und Panikstörungen die Möglichkeit haben, eine ambulante Psychotherapie über das Internet durchzuführen. www.net-step.de
Seelische Balance: Stilvolles Ambiente, um zur Ruhe zu kommen. Das mehrfach ausgezeichnete St.-Alexius-/St.-Josef-Krankenhaus in Neuss bietet für Manager und Macher die Ruheoase mit Wohlfühlfaktor.

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Für jeden eingesetzten Euro drei Euro Ersparnis

Auch in den Krankenkassen hat man das Problem erkannt: So bietet die AOK ein BGM für Unternehmen und Handwerksbetriebe an. Auch Patricia Lück, Diplom-Psychologin und Expertin für gesunde Arbeit beim AOK-Bundesverband, sieht in den Belastungen der modernen Arbeitswelt, z. B. in ständiger Erreichbarkeit, hoher Arbeitsverdichtung und gestiegenen Anforderungen an die Qualität der Arbeit, die Gründe für die Zunahme von psychisch bedingten Krankheitstagen. Nach einer Analyse der Arbeitssituation in den jeweiligen Betrieben, die auch „Hinweise auf spezielle Belastungen, aber auch Ressourcen“ liefert, entwickelt die AOK gemeinsam mit dem Management der Unternehmen gemeinsame Ziele und Maßnahmen. BGM lohnt sich, so Lück, denn: „Studien sagen dazu, dass ein eingesetzter Euro für gesündere Arbeitsbedingungen bis zu drei Euro Ersparnis bei den Krankheitskosten bringt.“ Auch private Dienstleister wie die B•A•D GmbH bieten ihren Kunden BGM an. Entscheidend, so Dr. Claudia Olejniczak vom Produktmanagement, sei die Erfolgskontrolle: „Der Erfolg sollte sich selbstverständlich in einer Reduzierung der psychischen Belastungen zeigen. Um dies festzustellen, kann man entweder die nächste Gefährdungsbeurteilung nutzen oder nach einer sinnvollen Zeitspanne beispielsweise Bewertungsworkshops mit den betroffenen Bereichen durchführen.“ Auch eine Gefährdungsbeurteilung sei kein Makel, wie Martin Schirrmacher, Referent Betriebliches Gesundheitsmanagement, betont: „Darauf aufbauend können sich Arbeitgeber und -nehmer im Sinne einer lernenden Organisation stetig weiterentwickeln.“

Web-Tools für Patienten und Versicherte

Frau Prof. Andrea Pieter: „Unternehmen, die Gesundheit fördern, sen­ken krankheitsbedingte Kos­ten und steigern so ihre Produktivität.“

Frau Prof. Andrea Pieter: „Unternehmen, die Gesundheit fördern, sen­ken krankheitsbedingte Kos­ten und steigern so ihre Produktivität.“

Immer öfter werden auch in Deutschland internetbasierte Tools eingesetzt, um psychischen Erkrankungen vorzubeugen bzw. diese zu diagnostizieren und zu behandeln. So hat das INQA gemeinsam mit dem Institut für Arbeitsmedizin und Sozialmedizin der RWTH Aachen ein E-Learning-Tool entwickelt, das Be- und Entlastungsfaktoren analysiert. Das personalisierte Tool gibt praktische Hilfen an die Hand und ermutigt nach Angaben der Hersteller dazu, „belastende Arbeitsbedingungen gezielt anzusprechen und externe Unterstützung anzunehmen.“ Noch weiter geht das St.-Alexius-/ St.-Josef-Krankenhaus unter der Leitung von Dr. Martin Köhne. Das Klinikum hat eine internetbasierte Psychotherapie entwickelt, in der Patienten die Möglichkeit geboten wird, eine ambulante Psychotherapie via Internet durchzuführen. Zu den behandelten Krankheitsbildern gehören die „Volkskrankheit“ Depression, Panikstörungen und soziale Phobie. Zu den Vorteilen der in der Regel 15-wöchigen Therapie „net-step“, die als Modellvorhaben durch das Gesundheitsministerium in Düsseldorf anerkannt wird, gehören unter anderem die Durchführbarkeit an jedem Ort und zu jeder Zeit, das Bestimmen des Tempos der Therapie durch den Versicherten und eine persönliche Betreuung durch internet-therapieerfahrene Psychotherapeuten. Das Klinikum Neuss bietet einen Online-Selbsttest für Interessierte an, die herausfinden wollen, ob eine Internettherapie das Richtige für sie ist.

BGM-Verantwortlichen ernennen

„Unternehmen, die Gesundheit an ihren Arbeitsplätzen fördern, senken damit krankheitsbedingte Kosten und steigern so ihre Produktivität“, resümiert Professorin Andrea Pieter. „Dies bedeutet, dass Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung einen festen Platz im Unternehmen erhalten und ein Teil der Unternehmensstrategie bzw. Unternehmensidentität werden.“ Pieter legt dabei Wert auf die KMU und schlägt vor, in kleineren und mittleren Unternehmen einen BGM-Verantwortlichen „zu qualifizieren, der Aktivitäten im Unternehmen und die Zusammenarbeit mit externen Dienstleistern koordiniert.“ Es wäre eine Möglichkeit, Erkrankungen vorzubeugen – und ganz nebenbei – Kosten zu senken.

Autor:
Dr. Ralf Magagnoli

 

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Bildquelle / Lizenz Prof. Pieter: Deutsche Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement

Bildquelle / Lizenz Aufenthaltsraum: St.-Alexius-/St.-Josef-Krankenhaus Neuss