Messen: Neue Pfade jenseits des Kerngeschäfts

Emke Hillrichs, Director Retail & Media Ecosystems bei der Strategieberatung diffferent, zeigt der Veranstaltungsbranche auf, wie diese die Digitalisierung nutzen können.

Wer im Event- und Messesegment alternative Möglichkeitsfelder in seinem Business- und Ertragsmodell durchdenkt, Ideen ausprobiert und konsequent nachjustiert, wird die richtigen Korridore für neues Wachstum finden.

Denken Sie mal an die NBA Playoffs 2020 zurück. Diese wurden digital abgehalten, ZuschauerInnen waren im Stadion wegen Corona nicht erlaubt. Dennoch konnten die Fans direkt ans Spielfeld geholt werden – durch den ‚Together Mode‘ von Microsofts Kommunikationsplattform. Dieser nutzt AI-gestützte Segmentierungstechnologie, um Menschen vor einem virtuellen Hintergrund zusammenzubringen. So wurden rund 300 Fans auf fünf Meter hohe LED-Displays am Spielrand auf drei Seiten des NBA-Basketball-Cours projiziert. Die Fans konnten sich gegenseitig beobachten und gleichzeitig das Spiel live mitverfolgen. Ein Paradebeispiel für eine gelungene Event-Hybridisierung.

Geschäftsmodelle weiterdenken, ausdifferenzieren und transformieren

Corona hat unsere Tagesabläufe in Rekordzeit hybridisiert. Die Akzeptanz für digitale Veranstaltungen ist inzwischen groß. Hinter der Digitalisierung steht allerdings eine weitaus höhere Mission: Es geht um das psychologische Loslösen vom physischen Ort und damit um eine potenzielle Erweiterung der Zielgruppe. MessebesucherInnen der Zukunft haben heute zwei Wege, um an der Veranstaltung teilzunehmen – durch das physische oder das digitale Messetor.

Um herauszufinden, welche Funktionen sich für eine Hybridisierung eignen, gilt es, einen strategischen Blick auf das eigene Angebot zu werfen und zu evaluieren, welche Bestandteile digital funktionieren und welche eher nicht. Oft lohnt es sich, zunächst einmal Wissensangebote sowie Inspirations- und Informationsangebote ins Auge zu fassen. Daraus lassen sich relativ einfach Learning- und Konferenzmodule konzipieren, die für die TeilnehmerInnen Mehrwert bieten.

Die Hybridisierung einzelner, geeigneter Angebote von Event- und Messe-Marken als ersten Schritt der Transformation ist auch deshalb essenziell, da sie erlaubt, das Kern-Business teilweise in zusätzlichem digitalem Gewand weiterzuführen. Denn die Investitionen in neue Business-Modelle will schließlich auch finanziert werden.

Loslösen von der zeitlichen Dimension

Es zeichnet sich ab, dass Messen und Events in Zukunft weder an räumliche noch an zeitliche Grenzen gebunden sein werden. Das Loslösen von der zeitlichen Dimension bietet viele Vorteile: Wenn einzelne Angebote digital angeboten werden, gibt es weniger Gründe, ein Event auf ein Wochenende oder eine Woche im Jahr zu beschränken. So gesehen kann eine Messe – oder zumindest die digitalen Bestandteile davon – mehrmals im Jahr stattfinden. Weiterhin können Zielgruppen genauer adressiert werden, indem Branchen-Veranstaltungen an saisonale Business-Schwerpunkt gekoppelt werden.

Vom Einzel-Event zur Serie

Für eine Serialisierung von Veranstaltungen und Messen, sollten Verantwortliche den User Benefit genau fokussieren. Denn es macht einen großen Unterschied, ob ein Networking oder ein passives Erlebnis in Serie geht. Wenn in der Konzeption sortenrein zunächst ein Benefit transformiert wird, schärft sich der Blick für das Erlösmodell und die Go-To-Market-Strategie.

Das Festival Tomorrowland im Jahr 2020 ist ein gutes Beispiel für Serialisierung. Denn es zeigt, dass Ertrags- und Businessmodelle vor allem dann vielversprechende Chancen auf neues Wachstum in sich bergen, wenn die digitalen Möglichkeiten erkannt und parallel zu den analogen Angeboten ausgebaut werden. Nach dem digitalen Tomorrowland wurden alle Performances der DJs im Internet verfügbar gemacht. Eine On-Demand Plattform, die das Festival noch einmal erlebbar machte – oder anders gesagt: ein Netflix für FreundInnen der elektronischen Musik. Das Interessante an dieser Art der Serialisierung ist, dass die zeitliche Dimension komplett ausgehebelt ist – NutzerInnen können Tag und Nacht auf die DJ-Sets zugreifen – und die Festivalveranstalter haben sich zudem einen zweiten Revenuestream geschaffen.

Den Blick in die Zukunft richten

Nachdem sich die Messe- und Eventveranstalter schon Gedanken dazu gemacht haben, welche Angebotsteile sich für die Transformation besonders eignen, sollten sie die eigenen Kompetenzen dahinter herausfiltern und neu zusammenzusetzen. Also die echten Markenassets zerlegen und neu interpretieren – mit neuen Funktionen für neue oder alte Zielgruppen.

Es gilt festzuhalten, was man mit den Kompetenzen von Organisation oder Marke noch tun könnte: Welche Geschäftsfelder und Angebote kann die Marke als echte Blue Ocean-Strategie noch anbieten? Könnte die eigene Organisation neben physischen zukünftig auch digitale Konferenzen organisieren, also Wissen vermitteln? Dann sollte man sich den Markt der Fachmedien oder der Erwachsenen-Bildung einmal genauer anschauen. Und hier passiert gerade viel: von der TED über das ‚House of Beautiful Business‘ bis zur ‚School of Life‘ – um nur einige Beispiele zu nennen.

Ein echter Zauberer in Hinblick auf neue Businessmodelle und Revenue-Streams ist Amazon. Angefangen mit E-Commerce bietet das Unternehmen heute mit Amazon Web Sevices auch Cloud-Lösungen an. Davon können sich andere Unternehmen einiges abschauen. Etwa wie es gelingt, das eigene Potenzial genau auszuloten und den Mut zu haben, den eigenen Skills entsprechend neue Wege auch außerhalb des Kerngeschäfts zu gehen. Dabei helfen folgende Frage: Was kann unsere Organisation gut? Was wäre, wenn unser Unternehmen von einem Tag auf den anderen das bisherige Angebot einstellen müsste? Was kann man aus den Stärken der Marke heraus Neues machen?

Durch Dekonstruktion zu neuem Wachstum

Um sich auf den Weg in Sachen Transformation zu machen, müssen EntscheiderInnen bereit sein, sich im strategischen Denken vom operativen Tun zu entfernen. Veranstalter müssen ihre Geschäftsmodelle weiterdenken, ausdifferenzieren und transformieren. Sie brauchen Mut zur Selbst-Dekonstruktion und die Vorstellungskraft für eine Rekombination der bisherigen Kompetenzen und Angebote.

Das gilt im Messe- und Veranstaltungssegment genauso wie in anderen Branchen. Die breite und zukunftsorientierte Aufstellung bietet besonders in komplexen Branchen die Möglichkeit des mehrdimensionalen Wachstums im neuen Angebots-Ökosystem. Das bedeutet jedoch nicht Beliebigkeit, sondern vielmehr ein System von sich gegenseitig ergänzenden Geschäftsmodellen – für eine zukunftsfähige Geschäftsausrichtung.

Emke Hillrichs (Quelle: Daniel Meyer)

Über den Autor

Emke Hillrichs ist Director Retail & Media Ecosystems bei der diffferent, der Strategieberatung für Neues Wachstum. Er berät seine KundInnen schwerpunktmäßig in den Bereichen Marken- und Innovationstrategie. Dabei entwickelt und pilotiert er mit seinem Team neue Geschäftsmodelle & Produkte auf dem Weg zu funktionierenden Ökosystemen. Zu seinen KundInnen zählen die Frankfurter Buchmesse, die Messe Frankfurt, Audible, Mediengruppe RTL oder Die Bahn.  


Weitere Informationen unter:
https://www.diffferent.de/branchen/retail-media-systems/