KI-Technologien in der Logistik und der Supply Chain
Im Interview mit der Redaktion erläutert Gabriel Werner von JDA Software das Potenzial von KI-Tools für die moderne Supply Chain und verdeutlicht, warum Netzwerk- und Plattform-Ansätzen die Zukunft gehört.
Herr Werner, wie ist der Status Quo deutscher Unternehmen im Kontext von SCM?
SCM ist aus meiner Sicht immer im Kontext mit Industrie 4.0. zu sehen. In Deutschland ist dies das beherrschende Thema. Die Digitalisierung fokussiert sich hier spürbar auf die Produktion. Andere SCM-Aspekte in Bezug auf Beschaffung, Logistik / Distribution und Bedarfsvorhersage sind zwar auch auf dem Radar, bekommen aber deutlich weniger Aufmerksamkeit. Ein holistischer Ansatz, der die gesamte Wertschöpfungskette einschließt, wäre in Deutschland in vielen Fällen wünschenswert. Wir müssen wegkommen von der Einzelbetrachtung hin zur End-to-End-Supply-Chain. Denn hier liegt aus unserer Sicht großes, teilweise unerschlossenes Potenzial. Die Digitalisierung ist in Deutschland noch nicht ganz angekommen. Diese Skepsis gegenüber neuen Technologien, aber auch den neuen Denk- und Arbeitsweisen die damit einhergehen, wirkt im Europäischen Ausland und in den USA mittlerweile als typisch Deutsch.
Wie stark nutzen Unternehmen, Ihrer Erfahrung nach, in ihren Lieferketten bereits Digitalisierungs – bzw. KI-Technologien?
Leider ist die Skepsis in punkto KI hierzulande noch recht hoch. Aber auch auf europäischer Ebene besteht durchaus noch Nachholbedarf. In einer Studie, die wir 2016 und 2018 mit der University of Warwick zum Thema „Lieferkette –digitale Einsatzbereitschaft“ durchgeführt haben, zeigt sich deutlich, dass europäische Hersteller der Digitalisierung zögerlich gegenüberstehen. Teilweise sind sie aber auch schlichtweg überfordert. Zwar ist KI die am schnellsten wachsende neue Technologie, aber wie die Studie zeigte, befindet sich das Verständnis hierfür in einem frühen Stadium. Ein grundlegendes Verständnis ist aber die Basis für Vertrauen in eine neue Technologie und somit auch für den Einsatz dieser. So konnten wir beispielsweise beim Thema Machine Learning, eine eigentlich vergleichsweise einfach zugängliche Form von KI, keinen nennenswerten Anstieg in punkto Akzeptanz und Einsatzbereitschaft feststellen.
Derzeit können wir bei nur 13 Prozent der befragten Unternehmen wirklich von einer digitalen Supply Chain sprechen. Hier erwarten wir aber in den nächsten fünf Jahren eine Steigerung auf über 30 %.
Vor welchen Herausforderungen stehen Unternehmen bei der Digitalisierung ihrer Lieferketten aktuell?
Wir beobachten immer öfter, dass Unternehmen mangels kommerzieller Angebote eigene Data-Science-Teams aufbauen und Machine Learning als Technologie selbst austesten. Dies geschieht mit sehr unterschiedlichem Erfolg. So zeigen Proof-of-Concept- oder Proof-of-Learning-Aktivitäten zwar vielversprechende Ergebnisse, eine dauerhafte und nachhaltige Implementierung schlägt aber oft fehl.
Angesichts der digitalen Komplexität und steigender Kundenerwartungen sind starke Prozesse erforderlich, um hier zu bestehen. Unternehmen müssen sozusagen an drei Fronten kämpfen: Zum einen geht es dabei um Prozessoptimierung der Produktions- und Lieferkette, zum anderen um den Einsatz von Innovationspiloten in Bezug auf maschinelles Lernen, KI, IoT, RPA oder digitale Kontrolltürme. Und letzten Endes müssen durch die Errichtung neuer Gründerzentren Orte geschaffen werden, in denen neue Geschäftsmodelle getestet werden können – und zwar mit einer Fail-Fast-Mentalität als Innovationstreiber.
In der Vergangenheit wurden Lieferketten Knoten für Knoten optimiert, z.B. Beschaffung, Produktion und Lagerhaltung jeweils für sich allein. In einer sich schnell verändernden digitalen Welt reicht dies jedoch nicht mehr aus. Es ist das komplette End-to-End-Netzwerk, das optimiert werden muss – und das weit über Unternehmensgrenzen hinweg. Netzwerk- und Plattform-Ansätzen gehört hier die Zukunft. Z.B. haben wir bei unserer Umfrage festgestellt, dass Supply Chain Network Design auch die Supply-Chain-Disziplin ist, bei der der höchste Anteil der Befragten (61%) am schnellsten vorankommen will. Was nicht überrascht – relativ geringer Aufwand kann hier eine große Wirkung entfalten.
Darüber hinaus ist Flexibilität und Agilität eine der wichtigsten Herausforderungen an eine moderne Supply Chain, bzw. für das Supply Chain Management. Flexibilität bezieht sich aber auch auf die Segmentierung. Denn jeder Markt ist anders und jede Zielgruppe muss individuell bedient werden, bis hin zur Zielgruppe mit nur einer Person als Mitglied. Die Erwartung junger Konsumenten, alles personalisieren zu können, stellt die Supply Chains der Unternehmen vor große Herausforderung. Die Kollegen aus dem Marketing finden es toll!
Jedes Unternehmen sollte eigentlich über eine große Menge an Daten verfügen. Die Realität sieht oft anders aus. Diese sinnvoll einzusetzen und richtig zu interpretieren ist eine Herausforderung, die nur mit digitaler Unterstützung zu bewältigen ist. Maschinelles Lernen und KI sind neue grundlegende Werkzeuge, um die Analyse großer und teilweise unstrukturierter Datenmengen anzugehen und die Ergebnisse in prädiktive und präskriptive Entscheidungsfindung umzusetzen. Digitale Kontrolltürme helfen dabei, den Überblick zu behalten und Lieferkettenabläufe von Anfang bis Ende zu visualisieren.
Wo spielen KI-Technologien in der Logistik und der Supply Chain ihre besonderen Stärken aus?
Der große Nutzen von Machine Learning liegt vor allem in den sehr präzisen Vorhersagen. Dies beschränkt sich nicht nur auf die Bedarfsprognose. Gerade im Logistikbereich kann Machine Learning einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil darstellen. So kann durch ein KI-gestütztes Supply Chain Management der Ablauf von Logistik- oder Produktionsprozessen, wie beispielsweise Ankunftszeiten von Transporten, Service-Level oder Produktionsausbeuten, überwacht und vorhergesagt werden. Weicht die Vorhersage dann zu stark von der Planung ab, können früher Gegenmaßnahmen eingeleitet und die Folgen abgemildert werden.
Um ein Beispiel zu nennen: Wenn ich heute schon weiß, dass mein Transport in 17 Tagen und nicht wie geplant in 14 Tagen ankommen wird, kann ich umdisponieren. Wenn ich aber erst am Tag der erwarteten Ankunft feststelle, dass sich der Transport um drei Tage verspätet, sind meine Reaktionsmöglichkeiten sehr eingeschränkt. Darüber hinaus kann KI dabei helfen, SCM-Parameter zu lernen und so Stammdaten in Planungsmodellen aktuell halten. Sie kann auch dabei helfen, Anwenderwissen („tribal knowledge“) in systemisches Wissen zu überführen. So kann zukünftig Wissen bewahrt und neue Kollegen, z.B. in der Suppy-Chain-Planung, schneller eingearbeitet werden.
Welche Wettbewerbsvorteile können Unternehmen durch den Einsatz Ihrer Plattform hier generieren?
Die JDA SCM-Plattform ermöglicht es unseren Kunden und Partnern erstmalig, im SCM-Umfeld über die Standard-Apps hinaus, eigene Apps zu kreieren. Dabei können Sie über APIs auf Fähigkeiten in unseren Kern-Applikationen (Supply Chain-Planung, Supply Chain Execution und Einzelhandel) zurückgreifen. Somit haben sie eine sehr gute Grundlage und müssen nicht bei Null beginnen. Wir nutzen die gleiche Plattform beispielsweise auch zum Bau unserer eigenen Next-Generation-Lösungen, die unter dem Namen „Luminate“ bekannt sind. Mit der Luminate-Familie können wir unseren Kunden beispielsweise eine KI-basierte Bedarfsvorhersage anbieten, die auf der BlueYonder-Technologie basiert, einen Control Tower mit Predictive Time of Arrival oder Service Level-Prediction.
Können Sie uns Anwendungsbeispiele nennen?
Ein Beispiel für den Einsatz unserer offenen SCM-Plattform findet sich bei unserem Partner HCL. Das globale IT-Dienstleistungsunternehmen, hat für seinen Endkunden eine Lösung für Kühltransporte implementiert. Dabei werden Sensordaten (IoT) aus den LKW in Echtzeit übertragen. Treten Abweichungen gegenüber den Soll-Werten auf, kann die Lösung direkt auf die Transportplanungs- und Optimierungsfähigkeiten von JDA zugreifen und den LKW falls erforderlich selbständig umleiten.
Ein faszinierendes Beispiel dafür, was mit KI bereits heute möglich ist, zeigt unser Kunde Morrisons in England. Das Unternehmen hat mit Machine Learning zur Bedarfsvorhersage einen Automatisierungsgrad von über 90% in der Filialdisposition erreicht. Zugleich konnten sie die Warenverfügbarkeit um mehr als 30 % verbessern. Über 200 Faktoren werden hierfür verarbeitet und analysiert. Das Ergebnis ist eine nahezu autonome Lieferkette, die Morrisons einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil verschafft.
Neben den eigenen Mitarbeitern externe Netzwerkpartner – Lieferant, Kunde, Logistikdienstleister – ins Boot zu holen, stellt Unternehmen vor echte Herausforderungen – wie können Unternehmen gemeinsam mit Ihnen diese bewältigen?
Lieferketten werden immer komplexer und verzweigter – es sind Liefernetzwerke Größtmögliche Transparenz ist in diesem Zusammenhang unabdingbar. Nur so kann man selbst den Überblick behalten und gleichzeitig das Vertrauen seiner Partner gewinnen. Dies gelingt durch die Nutzung von offenen Plattformen und dem ‚Netz der Netzwerke‘-Prinzip. Kommerzielle Interessen großer Systemanbieter („BIG ERP“) haben zu unzureichender Datendurchlässigkeit und -transparenz geführt. Das erschwert natürlich Kollaborationen über Unternehmens- und Netzwerkgrenzen hinaus. Offene Plattformen, die auch zukünftige Technologien absorbieren können, sind hier besser gerüstet.
Unsere Next-Generation-Lösung, die JDA-Luminate Plattform, kombiniert beispielsweise umfangreiche interne und externe Daten aus der gesamten digitalen Lieferkette. So können umfangreiche Datensätze erweitert, ergänzt, ausgewertet, analysiert und letztendlich eingesetzt werden. Gleichzeitig gewährt die Plattform einen umfassenden Einblick in das Lieferkettennetzwerk. Dadurch lassen sich fundierte, KI/ML-basierte Entscheidungen treffen. Zudem können unsere Kunden über die Plattform die Planungs-, Ausführungs- und Bereitstellungsfunktionen von Anfang bis Ende aufeinander abstimmen. Diese transparente Planung schafft nicht nur Sicherheit, sondern Vertrauen.
Die Themen Datenschutz und Cyber-Security stellen gerade hinsichtlich der Supply Chain große Bedenken/Herausforderungen für die Unternehmen dar. Wie können sich Firmen gegen diese Gefahren wappnen?
DSGVO und Datenschutz sind allgegenwärtig, speziell in Deutschland. Hier ist es essentiell, dass die Systeme aktuell gehalten werden, immer up to date zu bleiben, sprich auf die neuesten Standards zu setzen und alle Mitarbeiter entsprechend zu schulen. Durch Passwortbeschränkungen und strenge Vergaberichtlinien können zudem gute Vorkehrungen getroffen werden, um gerade sensible Daten nur der kleinsten Schnittmengen zur Verfügung zu stellen. Wir bieten viele unserer Produkte auf Basis der Cloud-Plattform „Microsoft Azure“ an. Dabei gelten die hohen Sicherheitsstandards von Microsoft. Darüber hinaus verfügen wir auch über eigene Zertifizierungen. Unsere Erfahrung ist aber, dass Brüche in der IT-Sicherheit selten ein technisches, sondern meist ein menschliches Problem zur Grundlage haben.
Unser Interviewpartner:
Gabriel Werner, Vice President EMEA Solution Advisory bei JDA Software
Enthusiastischer Pre-Sales Leader und Supply Chain Evangelist: Gabriel Werner, Vice President EMEA Solution Advisory bei JDA Software, ist Spezialist für komplexe Lieferketten. Nach Stationen bei Axxom Software und Infor ist der studierte Wirtschaftsingenieur seit mehr als acht Jahren Supply-Chain-Experte bei JDA Software. In seiner Funktion berät und unterstützt er gemeinsam mit dem EMEA-Team Unternehmen aus Produktion, Einzelhandel und Logistik auf ihrem Weg zu einer digitalen, autonomen Supply Chain.
Aufmacherbild / Quelle / Lizenz
Bild von Gerd Altmann auf Pixabay