Work-Life-Balance: Arbeitest du noch oder lebst Du schon?

Autor: Dr. Cornelia Reindl

Unsere  heutige  Arbeitswelt wird zunehmend flexibler und dynamischer. In  immer  mehr  Berufsfeldern herrscht ein hohes Veränderungs-, Reaktions- und Arbeitstempo.  Durch moderne Kommunikations- und Informationstechnologie verschwimmt die  Grenze zwischen Beruf und Privatleben zunehmend.

Das  erfordert eine neue persönliche Kompetenz der Selbststeuerung und Achtsamkeit  auf das eigene Wohlbefinden. Die  Fähigkeit, im  Beruflichen wie  im  Privaten  die  eigenen  Grenzen  zu  erkennen  und zu setzen wird zur Notwendigkeit, um gesund und  leistungsfähig  zu  bleiben.  Mit  der  steigenden  Anzahl  psychisch  belasteter  und  »ausgebrannter«  Menschen  als  Konsequenz  einer  weniger  gelungenen Grenzensetzung geht eine Debatte um Abgrenzung  von  Arbeit,  Entschleunigung   und  »Work- Life-Balance«  einher.  Die  einen  lächeln  müde  bei  der  bloßen  Erwähnung  des  Begriffs,  die  anderen  empfinden  den  Diskurs  als  dringende  Notwendigkeit auf dem Weg zu gutem und gesundem Arbeiten und Leben.

»Work- Life-Balance«

Worüber  aber  reden  wir  da  eigentlich,  wenn  wir  über  den  mittlerweile  schon  recht  abgenutzten  Begriff    »Work-Life-Balance«  sprechen?
In  der  umgangssprachlichen  Auffassung  verstehen  wir  unter  Work all die Aufgaben und damit verbundene Zeit, die  wir  im  Auftrag  des  Unternehmens  verbringen,  in dem wir arbeiten und für die wir bezahlt werden bzw. womit wir unseren Lebensunterhalt verdienen. Schon  über  diese  Definition  können  wir  natürlich trefflich streiten.
Was ist mit den Aufgaben und der Zeit, die mit Haushalt und Familie verbunden sind? Was  ist  mit  meinem  Engagement  als  Vereinsvorstand, Sporttrainer, Pfadfindergruppenchef, Hobbysommelier?
Was  ist  mit  jeglicher  Form  der  (meist  unbezahlten)  Erfüllung  von  Aufgaben,  die  ich  mir  in dem Moment nicht konkret aussuchen kann, die ich  für  andere  oder  ein  übergreifendes  Wohl  verrichte,  die  nicht  mit  einer  Bezahlung  verbunden  sind? Und was ist eigentlich mit dem Beruf, den ich liebe, in dem ich meine Interessen und Fähigkeiten verwirklichen  und  leben  kann,  so  dass  Arbeitszeit  keine  große  Rolle  spielt  und  kaum  das  Gefühl  aufkommt, dass ich »arbeite«?

Um  noch  bei  der  Trennung  der  Lebensbereiche  zu  bleiben:  Life ist  vermeintlich  einfach  erklärt  als  alles, was nicht Arbeit ist:  Freizeit, Familie, soziales Engagement,   Sport,   Regeneration   und   Entspannung.
Der  Vollständigkeit  halber  muss  man  hinzufügen,  dass  die  Debatte  zur  Work-Life- Balance  ihren Ursprung in den Neunzigern hat, als mit dem (wieder) häufiger  werdenden  Modell  der  Doppelverdienerpartnerschaft  Fragen der Vereinbarkeit   von Beruf und Familie in den Fokus rückten. Bei der Balance ist  man  sich  gemeinhin  einig,  dass  damit  nicht  ein  50:50-Verhältnis  gemeint  ist,  sondern  ein individuelles  Gefühl  einer  ausgewogenen  Gesamtlösung:  So,  wie  es  ist,  ist  es  für  mich  passend  und  belastet mich insgesamt nicht.

Balance durch Trennung oder Verzahnung?

Begrifflichkeit  hin  oder  her,  Tatsache  ist,  dass  wir  unter  anderem  durch  die  Digitalisierung  unserer Gesellschaft und die Flexibilisierung der Unternehmenswelt in Richtung 24/7 economy nicht mehr in  einer  Welt  leben,  in  der  Arbeit  und  Privatleben  selbstverständlich  getrennte  Lebensbereiche  sind.
Nun gibt es Menschen, die das bedauern und lieber, wie  gehabt,  zwischen  Beruf  und  Privatem  trennen  wollen.  Bei  anderen  verschwimmen  die  Grenzen  ein wenig oder verschmelzen schon stärker.
Es gibt Menschen, die bewusst ihre Aufgaben und Interessen verzahnen, die ein sehr geringes oder kein Verständnis  für  die  Unterscheidung  von  Lebensbereichen  als  solchen  haben.  Viele  Menschen  haben  die  große Chance und nutzen sie: beruflich das zu tun, was ihnen Freude macht, sie erfüllt, die Zeit vergessen lässt. Für sie fühlt es sich auch eher anregend als belastend  an,  den  Großteil  ihrer  Zeit  und  Energie  mit ihrem »Job« zu verbringen. Sie sind stark intrinsisch  motiviert  und  können  das  Bedürfnis,  Arbeit  und  Privates  zu  trennen,  stellenweise  überhaupt  nicht nachvollziehen. Unter Gleichgesinnten besteht häufig  ein  stillschweigender Konsens  darüber,  dass  der Beruf Berufung ist und die Lebensbereiche verschwimmen  oder  verschmelzen  (beziehungsweise  eben  gar  keine  Bereiche  als  solche  darstellen).

Das  spiegelt  sich  vielfach  im  sozialen  Umfeld  wieder.  Wer  das  Gros  seiner  Zeit  im  Kontext  seiner  Arbeit  verbringt,  verlagert  häufig,  ob  bewusst  oder  unbewusst, seine sozialen Kontakte eher in diese Richtung. Neben  der  intrinsischen  Motivation,  dem  Interesse  an  der  Tätigkeit  als  solche,  spielt  für  einige,  vor  allem hochqualifizierte Berufseinsteiger und Young  Professionals, das berufliche Fortkommen eine sehr große  Rolle.  Sie  möchten  sich  profilieren,  weiterkommen, Geld verdienen und sehen viel und harte Arbeit als selbstverständliche Notwendigkeit dafür.

Es  gibt  auch  diejenigen,  die  von  sich  sagen,  sie  arbeiten, um zu leben, und für die Arbeit eher eine ökonomische  Notwendigkeit  als  eine  Erfüllung  ist.  Das sind nun erst einmal die eher extremen Ausprägungen.  Sicherlich  leben  einige  wenige  Menschen  extreme  Ausprägungen  in  die  eine  oder  andere  Richtung,  umso  mehr  Menschen  liegen  »irgendwo  dazwischen«.  Menschen  haben  dementsprechend  unterschiedliche   Präferenzen,   wie   sie   ihr   Leben   wahrnehmen  und  gestalten  wollen.  Diese  müssen  nicht absolut sein, ich lese beispielsweise aus Eigeninteresse etwas thematisch Berufliches zu Hause auf dem Sofa, trenne strikt Kollegen und Freundeskreis, nutze das Angebot, dass meine Kinder im Unternehmen ihre Hausaufgaben machen können. Die  Konstellation von Werten, Bedürfnissen und Prioritäten kann sich jederzeit ändern. Langsam oder schlagartig, nach Lebensphase oder einem Lebensereignis.

Work-Life-Balance heißt Prioritäten setzen

Nun  hat  jeder  Tag  nun  einmal  24  Stunden,  von  denen  ein  gewisser  Teil  schlicht  mit  Notwendigkeiten  verbunden  ist:  Schlaf,  Nahrungsaufnahme,  Körperpflege, Wege von A(rbeit) nach B(ehausung), den  Tag  organisieren  …
dazu  kommen,  je  nach  persönlicher   Situation,   Aufgaben   rund   um   den   Work-Life-Balance häuslichen Lebensraum, Sport und Bewegung, zwischenmenschliche  Aktivitäten  in  der  Familie,  mit  Freunden, mit dem Partner, Entspannung und Regeneration. Die einen nehmen sich mehr, die anderen weniger  Zeit  für  Muße:  Regelmäßige  Hobbies  verfolgen,  interessante  Menschen  treffen,  Veranstaltungen  besuchen,  sich  für  eine  Sache  engagieren,  etwas Neues entdecken.

Irgendwo dazwischen liegt für die meisten von uns mit einem ziemlich hohen Zeitanteil die Arbeit beziehungsweise der Beruf.
Für den einen ist die regelmäßige Arbeit ein Job, für den anderen eine Berufung, wieder andere arbeiten mit viel Leidenschaft und Herzblut und setzen dennoch eine  klare  Grenze,  ab  welchem  Punkt  es  genug  des  Guten  für  sie  ist.  Wie  sich  diese  Priorität  für  jeden  von  uns  gestaltet,  ist  eine  sehr  persönliche  Frage.  Der  Luxus  der  unfassbaren  Vielfalt  an  Möglichkeiten,  Lebenszeit  zu  gestalten  erfordert  eine  zentrale  Metakompetenz:  die  Fähigkeit,  mich  mit  meinen  Bedürfnissen  auseinanderzusetzen,  mich  zu  entscheiden,  was  mir  wichtig  ist  und  so  meinen  Weg  zu  finden  und  je  nach  Lebensphase  nachzujustieren. Ob nun eher viel oder eher weniger Arbeit der richtige Weg ist und ob sich diese Frage überhaupt stellt,  ist  individuell  sehr  unterschiedlich.  Die  Forschung  geht  allerdings  weitläufig  davon  aus,  dass  Menschen,  die  über  Interessen  und  damit  verbundene  Energieressourcen  sowie  Interessen  in  mehr  als einem Lebensbereich verfügen, über lange Sicht stabiler und gesünder sind.

Der zentrale erste Schritt ist,  zunächst  für  sich  selbst  Klarheit  zu  gewinnen,  wie  das  Lebensmodell  aussieht,  das  für  jeden  persönlich ausgeglichen ist und sich nicht belastend auf die Gesundheit und Leistungsfähigkeit auswirkt.

Welchen Namen auch immer man dem Thema gibt, im Diskurs um »Work-Life-Balance« geht es im Kern der Sache um die Frage der Einteilung von zur Verfügung stehenden Zeit- und Energieressourcen, und das hat mit mir selbst, aber auch mit dem Unternehmen, in dem ich arbeite, zu tun.

Jedes Unternehmen hat  ein  Interesse  daran,  das  Leistungspotential  seiner Mitarbeiter so weit wie möglich auszuschöpfen. Gleichzeitig  bin  ich  nur  dann  motiviert,  zufrieden  und leistungsfähig, wenn ich mich wohl fühle, einen Sinn  in  meiner  Arbeit  sehe  und  gesund  und  leistungsfähig bin.
Ehrlichkeit und Klarheit gegenüber sich selbst und die Offenheit von Unternehmen für unterschiedliche  Lebensentwürfe  sind  hier  gefragt.  Wenn  die  Organisationskultur  einen  offenen  und  wertschätzenden  Dialog  zu  den  Werten  des  Unternehmens  und  den  Werten  ihrer  Mitarbeiter  pflegt  und   daraus   individuelle   Arbeits-Lebens-Modelle   strickt, ebnet das den Weg für ein starkes Team leistungsfähiger, motivierter und zufriedener Mitarbeiter und ebensolcher Bewerber.

 

(Lebens-) Wertorientierter Dialog als Weg zur Win-win-Situation

Wir  wissen  also,  dass  wir  selbst  und  die  Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, dann den besten  Job  machen,  wenn  sie  zufrieden  sind,  sich  wohl fühlen, ernst genommen werden, sich in einer Sache  als erfolgreich  wahrnehmen,  positives  Feedback  erhalten,  geliebt  und  wertgeschätzt  werden.  Dazu  stellt  sich  die  Frage,  welches  Lebensmodell  Menschen  in  ihrer  jeweiligen  Situation  brauchen, um zufrieden zu sein, und inwiefern dieses realisierbar und mit den Vorstellungen und der Erwartungshaltung des Unternehmens kompatibel ist.

Der Weg zu  einer  individuellen  Work-Life-Balance-Lösung  beginnt  bei  der  Klarheit  des  Einzelnen  selbst  über  seine  Bedürfnisse,  Wertvorstellungen  und  Erwartungen,  und  Klarheit  des  Unternehmens  über  dessen  Werte  und  die  Erwartungen  und  Erfordernisse  des  Arbeitsumfeldes.  Daraus  ergibt  sich  neben  unterschiedlichen  Vorstellungen  in  der  Regel  eine  Schnittmenge, ein gewisser Grad an Kompatibilität.

Hierin  liegt  der  Weg  zur  Lösung:  wo  sind  Werte,  Erwartungen und Bedürfnisse kompatibel, wo prallen   inkompatible   Wertvorstellungen   aufeinander,  welcher  Kompromiss  von  wem  ist  diesbezüglich  möglich. Vor dem Hintergrund dieser Schnittmenge  stellt  sich  von  beiden  Seiten  die  Frage,  wie  aus  ihr  ein  gangbares  und  zufriedenstellendes  Lebens- Arbeitsmodell werden kann.

 

Gestaltung von individuellen Lebens-Arbeits- Modellen

Eine  innovative  Organisationskultur  stellt  die  Menschen,  die  darin  wirken,  in  den  Vordergrund und  eröffnet  ihnen  Raum,  sich  mit  dem  eigenen  Wertesystem in Bezug zum Unternehmen auseinanderzusetzen. Sie setzt sich mit dem Wertesystem der Mitarbeiter  sowie  mit  dem  unternehmenseigenen  Wertesystem  auseinander  und  reflektiert  über  die  Schnittmenge  der  beiden.  So  können  individuelle  Lebens-Arbeits-Modelle entstehen.

Fragen an mich selbst, mein Wertesystem und meine Bedürfnisse bezüglich Beruf und Privates:

■ Welche Interessen und Wünsche, Verpflichtungen und  Aufgaben  habe  ich  momentan  in  meinem  Leben?

■ Was begeistert mich, bei welchen Gedanken glänzen  meine  Augen?  Wofür  brenne  ich,  was treibt  mich an?

■ Was  gehört  für  mich  zum  Gefühl,  erfolgreich  zu  sein: eine steile Karriere, eine gesunde und glückliche Familie, mein Leistungssport, viel Zeit zum Entspannen  …  wieviel  wovon?  Wo  möchte  ich  entsprechend Energie investieren und in welcher Wirkungsrichtung?

■ Inwiefern möchte ich Beruf und Privates trennen, inwieweit möchte ich diese Bereiche verzahnen?

■ Wie  sieht  entsprechend  mein  persönliches  Lebensmodell in der jetzigen Situation und in naher Zukunft aus?

Fragen  des  Unternehmens  an  seine  Mitarbeiter  und  an seine eigene Kultur:

■ Welche Interessen und Wünsche, Verpflichtungen und  Aufgaben  hat  mein  Mitarbeiter  innerhalb  und  außerhalb  der  Arbeit,  was  bewegt  ihn?  Was  motiviert diesen Menschen, was treibt ihn an?

■ Wünscht  sich  mein  Mitarbeiter  eher  eine  Trennung von Beruf und Privatem?

■ Was macht einen Mitarbeiter aus meiner Perspektive  erfolgreich?  Wie  bewerte  ich  seine  Leistung,  seinen Erfolg?

■ Was erwarte ich grundsätzlich von meinen Mitarbeitern in puncto Flexibilität, Erreichbarkeit, Leis-tung in ihrer jetzigen Position? Was ist unbedingt erforderlich für ihre Aufgaben, wo ist Spielraum?

■ Welche Kultur leben wir, sind wir bereit für eine Vielfalt  der  Lebensentwürfe  und  wenn  ja,  inwieweit können wir dieses Versprechen einlösen?

 

Die  Schnittmenge  zwischen  individuellen  und  unternehmerischen  Werten  zu  bilden,  erfordert  Respekt  und  Wertschätzung  für  den  Menschen  als  Ganzes, nicht nur für den Menschen in seiner Rolle als Mitarbeiter. Ein gewisser Fit von Interessen und Erwartungen  kann  mit  Blick  auf  die  Gesamtunternehmensebene relevant sein, spielt aber umso mehr auf  Teamebene  eine  Rolle.
In  der  Zusammenarbeit  im   Team   werden   flexible   oder   unterschiedliche   Arbeitszeiten,    Arbeitszeitreduzierung,  eine  Auszeit, Home Office, etc. relevant; sobald individuelle Lösungen  das  Team  betreffen,  müssen  sie  auf  dieser  Ebene  (mit)verhandelt  werden.
Die  Teamebene  kann  auch  auf  den  ersten  Blick  inkompatible  Haltungen  ein  Stück  weit  kompensieren,  je  nachdem  wie stark die Gesamtkultur mit der Teamkultur korrespondiert  bzw.  welche  Freiheitsgrade  das  Team  im  Vergleich  zur  Gesamtkultur  bietet.  Durch  das  Interesse  des  Unternehmens  an  beruflichen  und  außerberuflichen   Bedürfnissen   des   Mitarbeiters  signalisiert es ihm Wertschätzung.

Als Bonus hinzu kommt das Potential, dass privat eingesetzte Fähigkeiten auch im Unternehmen nützlich sein können, wenn  wir  einmal  an  die  Führungskompetenz  des  Freizeitsporttrainers denken, oder die Fähigkeit der belesenen  Hobbyphilosophin,  komplexe  Zusammenhänge zu erkennen.

 

Konkrete Gestaltungsmöglichkeiten von Lebens-Arbeits-Modellen im Unternehmen

Sieht man sich die unterschiedlichen Werte und Prioritäten  der  Mitarbeiter  jeweils  an,  werden sich  daraus Cluster bilden lassen, das heißt Mitarbeitergruppen  mit  ähnlichen  Bedürfnissen  hinsichtlich  der »Work-Life-Balance«.
Solche Cluster sind nützlich,  um  ein  sinnvolles  Spektrum  an  betrieblichen  Möglichkeiten  zu  entwickeln,  mit  denen  Lebens- Arbeits-Modelle gestaltet werden können. Entsprechend  ihrer  Präferenzen,  beispielsweise  auch  Trennung  versus  Verschmelzung  von  Lebensbereichen,  und Prioritäten, werden Mitarbeiter entsprechende Gestaltungsoptionen im Unternehmen nutzen.

Flexible  Arbeitszeitmodelle  sind  gängige  Praxis,  beispielsweise das Ansparen von Überstunden für eine Auszeit.  Recht  innovativ  fragt  ein  Maschinenbauer  aus Süddeutschland seine Mitarbeiter alle zwei Jahre aufs Neue, wie viel sie arbeiten möchten und wie die Arbeitszeit bestmöglich über die Woche verteilt sein  soll.

Die  Personalberatung  i-potentials  bietet  ihren  Recruitern  einmal  monatlich  einen  Personal  Free Day, an dem sie zwar erreichbar, aber nicht im Büro  sein  müssen,  als  Ausgleich  für  Bewerbertage,  die sehr früh starten und spät enden. Anpassungen der  Arbeitsorganisation,  beispielsweise  das  Home  Office,  werden zunehmend  beliebter,  wenngleich  sie  Unternehmen  auch  immer  wieder  vor  Herausforderungen stellen. So hat beispielsweise ein Automobilkonzern dieses Angebot für seine Mitarbeiter aufgegriffen,  welches  jedoch  nur  für  ca.  4  %  der  Belegschaft  überhaupt  in  Frage  kommt  aufgrund  der meisten Kerntätigkeiten, die einfach Präsenz vor Ort erfordern.

Die Optimierung von Arbeitsprozessen  hat  auch  ein  Hamburger  Start-up  aufgegriffen,  eine Flowmanagerin trägt dort durch die Verbesserung von Arbeitsabläufen dazu bei, dass die Arbeit als sinnhaft empfunden wird und effizient vonstatten geht. Das schafft zwar an sich noch kein Work- Life-Balance-Gefühl,  aber  einen  früheren  Feierabend.  Der Klassiker unter den Work-Life-Balance-Instrumenten  ist  natürlich  die  unternehmenseigene  Kita  oder Kooperation mit der Kindertagesstätte nebenan.

Aber  auch  die  Möglichkeit,  dass  Kinder  ihre  Hausaufgaben  im  Büro  machen  können,  wie  zum  Beispiel  beim  Ticketshop  PANOTI,  kann  eine  einfache Lösung sein. Wenn es um die Verantwortung für  Kinder  und  Familie  geht,  sind  Unternehmen  vor allem in puncto kurzfristige Flexibilität gefragt, denn wenn der Nachwuchs krank ist, sind die Prioritäten meist klar gesetzt.

Bei allen vorhandenen Möglichkeiten in flexiblen Unternehmensumfeldern stehen Unternehmen und deren  Führungskräfte  in  weniger  flexiblen  Betrieben  scheinbar  unveränderbaren  Arbeitsbedingungen häufig hilflos gegenüber. Sie scheuen den Dialog mit  ihren  Mitarbeitern  zu  deren  Bedürfnissen  und  ihrem Wohlbefinden, aus dem Gefühl heraus, ohnehin  nichts  ändern  zu  können.  Sie  unterschätzen  damit, was es auslöst, darüber zu reden, denn miteinander zu reden, ist bereits eine Form des Handelns und  zuhören  bedeutet  Wertschätzung.  Der  Dialog  lohnt  sich  immer,  denn  er  ergibt  zum  einen  das  motivierende  Gefühl,  wahrgenommen  und  ernst  genommen  zu  werden.  Zum  anderen  ergibt  sich  im  Gespräch  häufig  eine  deutlich  geringere  Erwartungshaltung  und  eine  realistischere  Einschätzung  von  Gestaltungsmöglichkeiten  und  -grenzen  vonseiten  des  Mitarbeiters,  als  das  Unternehmen  es  erwartet hätte. Ein kleiner Bonus, ein kleines Entgegenkommen  lässt  einen  zufriedenen  und  motivierten  Mitarbeiter  den  Besprechungsraum  verlassen  und  einen  bisweilen  überraschten,  ebenfalls  aber  zufriedenen Unternehmer zurück.

 

Herausforderungen auf dem Weg zu individuellen Lebens-Arbeits-Modellen

Nicht   jedes   Berufsfeld   bietet   den   gleichen   Gestaltungsspielraum  für  Flexibilität.  In  Systemen  mit  stark  strukturierten  Arbeitsabläufen  (zum  Beispiel  Produktion,  Logistik)  ist  Kreativität  gefragt,  um flexible Lösungen zu finden. Unternehmen, die von  Kunden  abhängig  sind,  sind  zeitlich  ebenfalls  weniger  flexibel  (Callcenter,  Kundendienst,  Beratungsorganisationen,  die  meisten  sozialen  Berufe,  etc.).    Die  Frage  nach  Individualität  einerseits  und  dem  Grundsatz  der  Gleichbehandlung  und  Chancengleichheit  andererseits  stellt  sicherlich  auch  ein  Spannungsfeld dar. In größeren und möglicherweise  auch  den  eher  traditionellen  Unternehmen  ruft  ein  individueller  Wertedialog  mit  Einzellösungen  gegebenenfalls die Arbeitnehmervertretung auf den Plan  und  mit  ihr  das  Allgemeine  Gleichbehandlungsgesetz,  das  Arbeitsschutzgesetz  und  ähnliche  Regularien,  die,  wenngleich  sinnvoll  und  notwendig, teils so gar nicht zu dynamischen und flexiblen Lösungen zu passen scheinen.

Generationenunterschiede   können   eine   Rolle   spielen,  besonders  in  Unternehmen  mit  einer  sehr  diversen  Altersstruktur,  sprich,  es  gibt  die  Generation  Y  mit  ihrem  Ruf  nach  Flexibilität,  die  arbeitsfixierte  Generation  Golf  in  der  Mitte und  die  Best  Agers  am  anderen  Ende,  die  sich  fragen:  »Wie  soll  das  funktionieren,  wenn  nichts  mehr  einheitlich  ist?«.

Weiterhin  befinden  sich  Führungskräfte  bezüglich   des   Work-Life-Balance-Themas   häufig  in  einer  Sonderrolle,  da  sie  oft  selbst  ein  Arbeitsethos  vertreten,  das  mit  viel  Engagement  und  zeitlicher   Präsenz   im   Unternehmen   verbunden   ist.   Nach  eigenen  Prioritäten  und  der  entsprechenden  Work-Life-Balance-Gestaltung  gefragt,  lächeln  viele  Führungskräfte  nur,  nicht  selten  etwas  gelangweilt. Dabei wird eine Organisationskultur, die sich einer  neuen  Gestaltung  der  Arbeit  verschreibt  und  zugleich  vorrangig  von  Führungskräften  getragen  wird,  die  eine  »Work  first«-Haltung  vertreten,  keine  wirklich  innovativen  Gestaltungsmöglichkeiten  leben   können.

Individuelle   Lebens-Arbeits-Modelle  werden  eher  Ausnahmesituationen  und  Sonderlösungen  sein,  was  es  denjenigen,  die  sie  leben,  schwer macht, akzeptiert zu werden und den anderen erschwert, wirklich offen ihre Prioritäten zu klären und zu setzen.
Mitarbeiter brauchen Vorbilder, und um eine Arbeitskultur nachhaltig zu verändern, müssen alle mitmachen – jeder auf seine Weise und nach seinen Bedürfnissen.

Last but not least, jede Veränderung braucht ihre Ressourcen – wie oft heißt es, keine Zeit, kein Geld. Meist sind die Unternehmen, bei denen es die »guten Sachen« gibt, finanziell sehr gut aufgestellt und verfügen, vielleicht auch aufgrund ihrer noch geringen Größe  (Start-ups),  über  eine  vergleichweise  hohe  Flexibilität   im   Angebot   von   Work-Life-Balance-Instrumenten.   Beispielsweise   fragt   ein   Anbieter   für die Gestaltung von Homepages nicht »Ist es das wert?«, sondern »Macht das Sinn?«. Wenngleich das zweifelsohne der gefühlt richtigere Ansatz ist, kann sich  das  nur  ein  Unternehmen mit  einem  komfortablen finanziellen Spielraum leisten.

 

Work-Life-Balance und Organisationskultur

Und was hat das jetzt alles mit Organisationskultur zu tun?
Es hat damit zu tun, dass zunächst einmal eine grundlegende Haltung des Respekts gegenüber unterschiedlichen Lebensentwürfen bestehen muss, damit  individuelle  Lösungen  überhaupt  denkbar  werden.  Erfolg,  und  damit  verbundene  Erwartungen  an  alle  Menschen  im  Unternehmen,  muss  aus  unternehmerischer  Sicht  verhandelt  und  definiert  werden  und  dann  auf  die  Teamebene  heruntergebrochen  werden.

Die Erfolgsdefinition  spiegelt  Werte  wider,  wie  gestaltet  sich  Wertschöpfung  im  Unternehmen,  woran  wird  der  Erfolg  gemessen.  Am Ende des Dialogs über individuelle Wertvorstellungen  mit  der  unternehmerischen  Erfolgsdefinition in  individuellen  Gesprächen  steht  ein  Konsens,  der  einen  gewissen  Spielraum  ergibt,  einen  Schritt  aufeinander  zu  bewirken:
was  geht  unter  welchen  Umständen,  wie  viel  geht,  inwieweit  passen  meine  Werte mit der Erfolgsdefinition des Unternehmens zusammen,  zu  dem  ich  einen  Beitrag  leiste.
In  der  Konsequenz  steht  die  gemeinsame  Entscheidung  zur   Gestaltung   der   Arbeit,   mit   größtmöglicher   Schnittmenge der Prioritäten und Werte des Unternehmens und des Mitarbeiters.
So individuell die einzelnen Vorstellungen auch sein werden,  es  lassen  sich  sicherlich  Cluster  bezogen  auf Werte und Ziele und die damit verbundene Priorisierung  von  Zeit-  und  Energieressourcen  bilden  und somit verschiedene Pakete für unterschiedliche Bedürfnisse schnüren.

Die sechs Kennzeichen einer innovativen Organisationskultur  kann  man  mit  Handlungsfeldern  rund  um die Lebens-Arbeits-Gestaltung füllen:

Transparenz schafft Vertrauen –

Dazu gehört es, dass die gleichen Regeln für alle gelten, dass individuelle Lebens-Arbeits-Modelle   grundsätzlich   gewünscht   werden und im Team gemeinsam entwickelt und für alle gangbar gestaltet werden.

Eigenverantwortung  für  den  Einzelnen  –

Jeder  Einzelne  muss  sich  darüber  im  Klaren  sein,  was  ihm  wichtig  ist  und  dafür  einstehen.  Er  ist  der  Kapitän  seines  eigenen  Lebensentwurfs,  das  Unternehmen  kann  dabei  von  seiner  Seite  Optionen  bieten  und  Spielräume schaffen.

Rollenwechsel  für  Führungskräfte  –

Jede  Führungskraft  agiert  vorrangig  als  Coach,  Partner,  Unterstützer und lebt ihrerseits ihr persönliches Arbeits-Lebens-Modell.  Jede  Führungskraft  hat  eine  klare  Vorbildfunktion. Jedem, der zum Unternehmenserfolg beiträgt, also natürlich auch der Führungskraft, sollte   ein   Lebens-Arbeits-Modell   möglich  sein,  welches  die  größtmögliche  Schnittmenge  zwischen  dem  eigenen  Wertesystem  und  dem  Wertesystem  des Unternehmens aufweist.

Kampfansage an die Zeitfresser –

Flache Hierarchien, eine  hohe  Selbstbestimmtheit  und  Verantwortung  eines jeden Einzelnen ermöglichen, dass Führungskräfte  Begleiter  und  Sparringspartner  sind  anstatt  Kontrollorgane.  Auf  diese  Weise  ist  es  nicht  erforderlich, dass die Führungskraft jeden Tag von früh bis spät am Arbeitsort verfügbar ist.

Maßgeschneiderte Arbeitsbedingungen –

Das Unternehmen kennt, respektiert und berücksichtigt – im Rahmen des Möglichen – die Situation eines jeden Mitarbeiters  als  »ganzer  Mensch«  und  damit  verbundene Bedürfnisse. Es entsteht ein auf Mitarbeitercluster  zugeschnittener,  bunter  Strauß  an  Möglichkeiten, sich ins Unternehmen einzubringen.

Authentische  Unternehmenskultur  –

Insbesondere  bezogen  auf  das  Work-Life-Balance-Thema  ist  die  Authentizität der Unternehmenskultur nicht zuletzt eine Frage der Unternehmenskommunikation – wie wird   im   Unternehmen   miteinander   über   unterschiedliche Arbeits-Lebens-Modelle und damit verbundene Bedürfnisse gesprochen.
Wird eher neutral und sachlich darüber kommuniziert,  wenn  sich  zwei Führungskräfte  eine  Stelle  teilen, oder wird so eine »Konstellation« eher nicht ernst  genommen?  Eine  authentische  Werthaltung  der Offenheit spiegelt sich darin wieder, wie wir mit-einander reden. Denn bekanntlich kann man nicht nicht kommunizieren.

 

Abschließend bleibt zu sagen:

Unternehmen, fragt eure Mitarbeiter, was sie brauchen  und  entwickelt  mit  ihnen  Ideen,  wie  deren  Arbeits-Lebens-Modell umsetzbar sein kann.
Du  selbst,  mach  Dir  klar,  was  Du  brauchst,  was  zu  Dir  passt  und  wie  Dein  momentanes  Lebens-  Arbeits-Modell aussieht.

Zusammenfassung

Work-Life-Balance, oder besser:
die funktionierende Gestaltung von Lebenszeit und -energie

■ ist  ein  sehr  individuelles  und  nicht  für  jeden  gleichermaßen ein relevantes Thema

■ liegt  erst  einmal  stark  in  der  Eigenverantwortung  des Mitarbeiters und …

■ erfordert   Klarheit   zu   Prioritäten,   Bedarfen   und   Bedürfnissen  auf  Seiten  des  Mitarbeiters  und  den  Werten des Unternehmens

■ Unternehmen  können  durch  einen  konstruktiven  Wertedialog  und  eine  Kultur  der  Klarheit  Gestaltungsoptionen und Freiräume anbieten und durch die Entwicklung individueller Lebens-Arbeits-Modelle  jeden  Mitarbeiter  so  zu  seiner  Zufriedenheit  und optimalen Leistungsfähigkeit einsetzen.

 

 

 

Über die Autorin:
Dr. Cornelia Reindl
Prozessgestalterin | Beraterin | Trainerin
Schwerpunkt: Gesundheitsmanagement | HR | Organisationsentwicklung

Cornelia treiben seit jeher Themen rund um die Leistungsfähigkeit von Unternehmen und den Menschen, die darin arbeiten, um und an. Rund um die Frage, wie gute und gesunde Arbeit funktioniert, beschäftigt sie sich mit Instrumenten der Personal- und Organisationsentwicklung, mit denen Menschen leistungsfähig, motiviert und zufrieden ihren größtmöglichen Beitrag in ihrem Unternehmen leisten können.
Dazu gehört unter anderem ein betriebliches Gesundheitsmanagement – wie können Unternehmen ihre Mitarbeiter dabei unterstützen, gesund zu bleiben bzw. mit Erkrankungen umgehen – und die Gestaltung einer innovativen Unternehmenskultur in Verbindung mit Prioritäten und Werten des Einzelnen – wie und mit welchem Stellenwert möchte ich mein Leben und meine Arbeit gestalten – und der essentiellen Frage, (in)wie(weit) diese zueinander passen. Im Rahmen von Seminaren,  Projekten und Beratung in verschiedenen Branchen unterstützt Cornelia Führungskräfte und Mitarbeiter auf dem Weg zu guter Arbeit für Mensch und Unternehmen.

 

 

Quelle / Text / Lizenz
Der Beitrag „Work-Life-Balance: Arbeitest du noch oder lebst Du schon?“ wurde im Buch: „Gemeinsam Unternehmenskultur denken“ veröffentlicht und ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.