Doomscrolling: Wenn schlechte Nachrichten unsere Wahrnehmung vergiften
„Schon wieder Krieg, schon wieder Krise“ – viele von uns wachen mit Eilmeldungen auf und schlafen mit Push-Nachrichten ein. Dieses Dauerfeuer an Negativem hat einen Namen: Doomscrolling – das endlose Konsumieren schlechter Nachrichten in sozialen Feeds, TV und Radio. Forschungen zeigen: Wer sich so informiert, fühlt sich häufiger gestresst, ängstlicher, schläft schlechter – und schätzt die Welt verzerrt pessimistischer ein. today.ucsd.edu+1
Was macht Doomscrolling mit uns?
Psycholog:innen beschreiben einen Teufelskreis: Negative Meldungen aktivieren das Stresssystem, verstärken Anspannung und trübe Stimmung – genau diese Gefühle treiben uns dann zu noch mehr Scrollen, in der Hoffnung, „nichts zu verpassen“ und Kontrolle zurückzugewinnen. Ergebnis: noch mehr Stress, Schlafprobleme und Grübeln. Studien aus 2022–2025 verknüpfen intensiven Nachrichtenkonsum explizit mit mehr Angst, geringerer Lebenszufriedenheit, „Issue Fatigue“ und mentaler Belastung – bis hin zu existenziellen Sorgen. The Guardian+3PMC+3PMC+3
Hinter dieser Anfälligkeit steckt auch eine Grundtendenz unseres Gehirns: Negativity Bias – „Schlechtes wirkt stärker als Gutes“. Ein vielzitierter Übersichtsartikel zeigt, dass negative Informationen schneller aufgenommen, länger erinnert und schwerer korrigiert werden als positive. Im Nachrichtensog heißt das: Katastrophen dominieren unsere Aufmerksamkeit – und bleiben hängen. SAGE Journals
Schon vor Social Media beschrieb der Kommunikationsforscher George Gerbner das „Mean World Syndrome“: Wer über lange Zeit Gewalt- und Krisenbilder konsumiert, hält die Welt für gefährlicher, als sie tatsächlich ist. Das gilt heute auch für digitale Feeds, die unsere Wahrnehmung zusätzlich zuschneiden und verdichten. Simply Psychology
Ist die Welt wirklich so schlecht?
Kurz: Nein – jedenfalls nicht so schlecht, wie es unsere Feeds suggerieren. Langfristdaten zeigen: Extreme Armut, Kindersterblichkeit und viele Gesundheitsrisiken sind in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen. Das ändert nichts an aktuellen Kriegen und Krisen – relativiert aber das Gesamtbild. Wer nur Tagesmeldungen konsumiert, übersieht strukturelle Fortschritte. Our World in Data+2Our World in Data+2
Warum berichten Radio, TV und öffentlich-rechtliche Sender täglich über Kriege?
Zum Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gehört umfassende, unabhängige und sachgerechte Information über politische und gesellschaftliche Ereignisse – auch (und gerade) über Krieg, Terror und Krisen. Dieser Informationsauftrag ist im Medienstaatsvertrag und begleitenden Materialien verankert. Redaktionen folgen zudem etablierten Nachrichtenfaktoren (u. a. Relevanz, Nähe, Konflikt, Dramatik): Ereignisse mit großem öffentlichen Interesse erhalten Priorität. Das kann den Eindruck eines „ständigen Negativ-Fokus“ verstärken – ist aber rechtlich und publizistisch begründet. die-medienanstalten.de+1
Wichtig: Dass Kriegsnachrichten prominent laufen, heißt nicht, dass „die Welt nur schlimmer wird“, sondern dass Redaktionen ihre Pflicht zur zeitnahen Berichterstattung erfüllen. Der Effekt auf unsere Psyche entsteht vor allem durch Dosis, Frequenz und Darreichung – und durch unsere eigene Nutzung. Tandfonline
Wie wir Medien gesünder konsumieren
Die gute Nachricht: Wir können viel tun, um informiert zu bleiben ohne uns runterzuziehen. Psychologie-Verbände, Gesundheitsorganisationen und Universitäten empfehlen ähnliche Grundsätze:
-
Zeitfenster statt Dauerstrom: Nachrichten 1–2 x am Tag gebündelt checken (z. B. morgens/mittags), Pushs und „Breaking“-Alerts abends aus. APA+1
-
Abendruhe: 60–90 Min. vor dem Schlafen keine News/Feeds – Schlafqualität schützt mentale Resilienz. today.ucsd.edu
-
Quellen kuratieren: Qualitätsmedien, Hintergrundformate und „Slow/Constructive Journalism“ einbauen, um Zusammenhänge und Lösungen zu sehen – nicht nur die Eskalation von heute. (Grundlage: Forschung zu Negativitätsbias und Kultivierungseffekten.) SAGE Journals+1
-
Ratio ausbalancieren: Auf jedes „Breaking“ mindestens ein Langfrist-Signal setzen (z. B. Our World in Data zu Armut, Gesundheit) – hilft beim Realitätscheck. Our World in Data+1
-
Bewusst soziale Medien dosieren: Feeds sind auf Aufmerksamkeit optimiert; Limits und App-Timer nutzen, Accounts muten, die Angst triggern. APA
-
Körper und Kopf erden: Bewegung, Schlaf, soziale Kontakte und kurze Atem-/Achtsamkeitsübungen reduzieren Stress – WHO und CDC bieten frei verfügbare Selbsthilfe-Guides. Weltgesundheitsorganisation+1
-
Handlungsfokus statt Hilflosigkeit: Wenn Nachrichten belasten (z. B. Kriegsbilder), kleine wirksame Schritte definieren (spenden, lokal engagieren) – das gibt Kontrolle zurück. wellbeing.jhu.edu
-
Warnsignale ernst nehmen: Wenn Angst, Schlaflosigkeit oder Grübeln anhalten, mit Ärzt:innen/Therapeut:innen sprechen. (Hinweise u. a. in APA-Ressourcen.) APA
Doomscrolling schnell beschrieben……
-
Negativity Bias: Schlechtes sticht heraus, bleibt länger haften. SAGE Journals
-
Ungewissheit: Ständige Krisenmeldungen erzeugen Unsicherheit – ein Treiber von Stress und Angst. mental.jmir.org
-
Belohnungsschleifen: Das nächste Update könnte „die Lösung“ bringen – variable Verstärkung wie im Glücksspiel. (Erläuterungen u. a. in psychologischen Monitor-Beiträgen.) APA
Fazit für Unternehmen und Führung
Auch in Organisationen führt permanenter Krisen-Takt zu kognitiver Überlastung und schlechteren Entscheidungen. Sinnvoll sind News-Hygiene-Regeln (z. B. tägliche Briefings statt Live-Ticker im Team-Chat), regelmäßige Lageeinschätzungen mit Langfristkennzahlen, Medienkompetenz-Trainings und Psychohygiene-Angebote für Mitarbeitende. So bleiben Teams informiert – und zugleich handlungsfähig. Psychiatric Times
Weiterführende Studien & Ressourcen (Auswahl)
-
Doomscrolling & mentale Gesundheit: Überblicksbeiträge/Studien 2022–2025. Tandfonline+3Harvard Health+3PMC+3
-
Negativity Bias: Baumeister et al. „Bad is Stronger than Good“ (Review). SAGE Journals
-
Mean World Syndrome & Kultivierung: Zusammenfassungen/Einordnung. Simply Psychology
-
Langfrist-Trends (Realitätscheck): Our World in Data – Armut, Kindersterblichkeit, Lebenserwartung. Our World in Data+2Our World in Data+2
-
Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland: Medienstaatsvertrag & bpb-Darstellung. die-medienanstalten.de+1
-
Praktische Coping-Tipps: APA-Leitfäden, WHO-Stress-Guide, CDC-Stressressourcen.
Textlizenz:
https://creativecommons.org/licenses/by-nd/4.0/deed.de













