Digitale Zwillinge: Wie virtuelle Abbilder die Medizin verändern
Ein digitaler Zwilling – also ein virtuelles Abbild des Gesundheitszustands eines Menschen – klingt nach Science-Fiction. Doch in deutschen Kliniken und Forschungslaboren ist diese Technologie längst Realität. Sie eröffnet Ärztinnen und Ärzten neue Möglichkeiten, Therapien zu testen, Diagnosen zu simulieren und Krankheitsverläufe vorherzusagen – ganz ohne Risiko für die echten Patientinnen und Patienten.
Erste Einsatzfelder in Deutschland
Digitale Zwillinge sind in Deutschland vor allem in hochspezialisierten Zentren im Einsatz. Ein Beispiel ist die Strahlenklinik am Universitätsklinikum Erlangen: Bevor Patientinnen und Patienten mit einem Tumor bestrahlt werden, simulieren Ärztinnen und Ärzte den optimalen Bestrahlungsplan am virtuellen Modell. So lassen sich Nebenwirkungen reduzieren und die Wirksamkeit erhöhen.
Auch die TU Dresden forscht intensiv an digitalen Zwillingen, insbesondere bei chronischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose. Ziel ist es, Krankheitsverläufe vorherzusagen und Therapien individueller zu gestalten. Parallel dazu arbeitet die Fraunhofer-Gesellschaft an Projekten, die digitale Zwillinge für Herz-Kreislauf-Erkrankungen nutzbar machen.
Neben der direkten Patientenversorgung hat auch die deutsche Pharmaindustrie großes Interesse: Virtuelle Patienten können helfen, die Entwicklung neuer Medikamente zu beschleunigen und Risiken besser abzuschätzen. „In silico trials“ – also klinische Studien im Computer – könnten die Zahl der notwendigen Tierversuche und frühen Humanstudien reduzieren.
Chancen für das deutsche Gesundheitssystem
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Personalisierte Medizin:
Digitale Zwillinge erlauben es, Therapien exakt auf den individuellen Patienten zuzuschneiden. Während Leitlinien bisher Durchschnittswerte abbilden, ermöglichen Zwillinge maßgeschneiderte Behandlungen – eine große Chance etwa bei Krebs oder seltenen Erkrankungen. -
Effizienz im Klinikalltag:
Durch präzisere Diagnosen und Simulationen könnten kostspielige Fehlbehandlungen reduziert werden. Angesichts des hohen Drucks auf Kliniken und Krankenkassen könnte dies zu erheblichen Einsparungen führen. -
Prävention und Vorsorge:
Zwillinge, die kontinuierlich mit Daten aus Wearables oder elektronischen Patientenakten gefüttert werden, könnten Risiken frühzeitig anzeigen – etwa für Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Damit ließen sich langfristig auch die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen senken.
Risiken und offene Fragen
So vielversprechend die Technologie ist, sie wirft gewichtige Fragen auf:
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Datensicherheit und Datenschutz: Medizinische Daten gehören zu den sensibelsten Informationen überhaupt. Für den Einsatz digitaler Zwillinge braucht es höchste Sicherheitsstandards, von Verschlüsselung bis zu Datentreuhändern. Zudem ist die Frage zu klären, ob Krankenkassen oder private Unternehmen Zugriff auf solche Daten erhalten dürfen.
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Regulierung und Haftung: Noch ist unklar, wer haftet, wenn ein digitaler Zwilling fehlerhafte Empfehlungen gibt. Ärztinnen und Ärzte bleiben zwar verantwortlich, doch die Abgrenzung zwischen menschlicher Entscheidung und algorithmischer Empfehlung muss rechtlich definiert werden.
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Versorgungsgerechtigkeit: Wenn digitale Zwillinge nur in Unikliniken verfügbar sind, könnten bestehende Unterschiede in der Gesundheitsversorgung weiter wachsen. Umgekehrt könnten sie aber gerade in strukturschwachen Regionen helfen, Diagnosen zu verbessern – vorausgesetzt, der Zugang wird breit organisiert.
Politische und regulatorische Weichenstellungen
Deutschland steht mit dem Krankenhauszukunftsgesetz, der Digitalstrategie Gesundheit und dem geplanten Gesundheitsdatennutzungsgesetz bereits in den Startlöchern, die Grundlage für digitale Zwillinge zu legen. Besonders wichtig ist die Interoperabilität der Daten: Nur wenn elektronische Patientenakten, Bilddaten und Wearables nahtlos zusammenarbeiten, können Zwillinge aussagekräftige Modelle liefern.
Parallel dazu fordert die EU mit dem European Health Data Space (EHDS) eine gemeinsame europäische Dateninfrastruktur. Für Deutschland bedeutet das: Kliniken, Forschung und Krankenkassen müssen ihre Systeme öffnen, um an diesem europäischen Datenraum teilzuhaben – eine zentrale Voraussetzung für die Entwicklung leistungsfähiger Zwillinge.
Blick über den Atlantik: Was Deutschland lernen kann
In den USA sind führende Kliniken wie die Mayo Clinic oder die Duke University bereits weiter. Dort werden Zwillinge in der Onkologie, in der Herzchirurgie und bei der Entwicklung neuer Medikamente aktiv erprobt. Private Tech-Unternehmen arbeiten parallel daran, Zwillinge für den Massenmarkt zu entwickeln – teilweise in Verbindung mit Wearables, die Gesundheitsdaten in Echtzeit erfassen.
Deutschland verfolgt einen vorsichtigeren Weg: Strenger Datenschutz und föderale Strukturen bremsen die Geschwindigkeit, sorgen aber für ein höheres Maß an Sicherheit. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, die Technologie schnell in die Breite zu bringen, ohne das Vertrauen der Patientinnen und Patienten zu verspielen.
Gedanken dazu….
Digitale Zwillinge haben das Potenzial, die Medizin in Deutschland grundlegend zu verändern: von der personalisierten Krebstherapie bis zur präventiven Vorsorge. Doch der Weg in die Regelversorgung ist noch weit. Notwendig sind robuste Dateninfrastrukturen, klare gesetzliche Regeln und ein breiter Zugang.
Wenn Politik, Forschung, Kliniken und Krankenkassen hier an einem Strang ziehen, könnten digitale Zwillinge schon in wenigen Jahren ein fester Bestandteil der deutschen Gesundheitsversorgung sein. Dann wäre das virtuelle Abbild nicht nur ein technisches Experiment, sondern ein Schlüssel zu einer besseren, effizienteren und gerechteren Medizin.













