Dezentrale Kontobücher: Die Zukunft der Finanzbranche

Distributed-Ledger-Technologien verfügen über ein riesiges Potential. In der europäischen Finanzbranche könnten sie in den kommenden Jahren für einige Innovationen sorgen, sagt Maren Schmitz, Partnerin und Leiterin des Asset Management Beratungsgeschäfts bei der KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft.

Im Januar 2009 entwickelte ein Programmierer unter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto vor dem Hintergrund der globalen Finanzkrise den Bitcoin. Gespeichert auf verschlüsselten Ledger in einem dezentralen Netzwerk, sollte die digitale Währung bei der Vermeidung künftiger Krisen helfen und für mehr Transparenz, Sicherheit und Vertrauen im Finanzsystem sorgen. Inwieweit ihr das bisher gelungen ist, wird kontrovers diskutiert, doch dürfte klar sein: Für die Verbreitung der Distributed Ledger Technologie (DLT) hat der Bitcoin eine zentrale Rolle gespielt. Auch spätere Weiterentwicklungen der Technologie, wie Smart Contracts oder Security-Token, entstanden in seinem Fahrwasser. Mit Smart Contracts können Nutzer ihr Geld digital programmieren, was ihnen zum Beispiel die automatische Ausführung von Transaktionen unter vorab definierten Bedingungen ermöglicht. Security-Tokens werden für den Handel und die Verwaltung von Eigentumsrechten genutzt und kommen völlig ohne Intermediäre aus.

Mit Blick auf das kommende Jahrzehnt gilt die Distributed-Ledger-Technologie als eine der wichtigsten Innovationen für die Finanzbranche. Nach Schätzungen des Nachrichtenblogs The Daily Hodl könnte das Marktvolumen von Kryptowährungen und Security-Token 2024 bereits bei etwa 1,4 Billionen Euro liegen. Eine Berechnung, die von einer allmählichen Erschließung breiterer Anwendungsfelder ausgeht, was angesichts der zahlreichen Herausforderungen in der Branche und den vielfältigen Lösungsmöglichkeiten der Technologie nicht unwahrscheinlich ist. Ob schnellere Zahlungen, bessere Compliance-Prozesse oder die effizientere Abwicklung von Finanzdienstleistungen – mit einem dezentralen Ledger ist vieles möglich. Was der Technologie bisher allerdings noch zu ihrem Durchbruch gefehlt hat, sind etablierte Finanzdienstleister, die den Sprung vom Nischenexperiment zur Massenanwendung wagen – auch in Europa. Doch das könnte sich bald ändern, wie eine kürzlich von KPMG durchgeführte Branchenumfrage nahelegt. Sie nennt drei zentrale Gründe, die die Entwicklung bei europäischen Finanzdienstleistern deutlich beschleunigen werden.

  1. Erst kommt die Regulatorik, dann die Anwendung in der Breite

In unseren Gesprächen mit professionellen Finanzdienstleistern aus dem europäischen Banken- und Finanzsektor hat sich gezeigt, dass der Hauptgrund für fehlende Investitionen in DLT-Lösungen noch immer auf Unklarheiten bei der Regulatorik zurückzuführen ist. So gaben viele der befragten Finanzdienstleister an, derzeit noch mit der regulatorischen Überprüfung geeigneter Anwendungsfälle und Geschäftsmodelle beschäftigt zu sein. Europäische Gesetzesinitiativen, wie das Gesetz über Elektronische Wertpapiere, werden diesen Prozess jedoch zunehmend beschleunigen und für Rechtssicherheit und damit für kalkulierbare Risiken und erste Investitionen sorgen. Das gleiche gilt auch für den digitalen Euro, der als allgemein anerkanntes Austauschmedium und dezentraler Ledger mit hoher Vertrauenswürdigkeit zu einer Initialzündung bei Smart Contracts und Security-Token führen dürfte.

  1. Der Wegfall von Intermediären spart Zeit und Kosten

Durch den Wegfall von Intermediären haben DLT-Lösungen das Potential, Finanzmärkte zu vereinfachen und ihre operative Effizienz zu verbessern. Zurzeit werden Transaktionen in der Finanzbranche für gewöhnlich mit mehr als zwei Intermediären abgewickelt, wobei in der Vermögensverwaltung viele Prozesse noch immer manuell stattfinden. Anders mit einem dezentralen Ledger, der den unmittelbar beteiligten Parteien Zugang zu einer gemeinsamen Datenbank bietet, auf der Transaktionen transparent und sicher durchgeführt werden können. Mittels Smart Contracts lassen sich darüber hinaus beliebige Vereinbarungen im Ledger kodieren und automatisch umsetzen. Auch ermöglicht der dezentrale Ledger den Parteien einen Echtzeit-Zugang zu den Transaktionsdaten und vermeidet so Abwicklungsrisiken und die damit verbundenen Kosten. Das Effizienzversprechen, das von der Technologie ausgeht, ist also groß: Laut KPMG-Meinungsbild zielen über 80 Prozent der Finanzdienstleister bei Investitionen in die Blockchain auf operative Effizienzgewinne ab.

  1. Neue Märkte bieten enorme Wachstumschancen

Digitale Vermögenswerte haben das Potenzial, völlig neue Einnahmequellen für Banken und Vermögensverwalter zu erschließen. Ob Immobilien, Anleihen, Aktien oder Kunstwerke – mit der Tokenisierung von Vermögenwerten wird der Handel vereinfacht, der Zugang für neue Kundengruppen ausgeweitet und gleichzeitig das Vertrauen zwischen Verwahrern und Anlegern gestärkt. Ein Segment, in dem sich das zeitnah bemerkbar machen wird, sind Krypto-Märkte. Nach dem jüngsten Hype erwarten wir hier einen deutlichen Anstieg der Kundennachfrage bei Blockchain-Produkten. Im Bereich von Anleihen und Fonds wird die Tokenisierung dagegen stark von dem Gesetz über Elektronische Wertpapiere und der Einführung eines Krypto-Registers abhängen. Großes Interesse besteht laut KPMG-Meinungsbild auch an den Bereichen Asset Servicing, Krypto-Fonds und Krypto-Custody. Insgesamt lässt sich festhalten, dass sich mit der Digitalisierung von physischen und immateriellen Vermögenswerten eine riesige Chance zur Einführung neuer Produkte und zur Diversifizierung von Portfolios auftun wird.

Neben europäischen Finanzdienstleistern wissen das allerdings auch ausländische Konkurrenten und disruptive Fintechs, die den Innovationsdruck auf die Branche stetig erhöhen. Dabei werden von den heimischen Unternehmen vor allem hochspezialisierte Dienstleister als Bedrohung angesehen, wie unsere Umfrage deutlich macht. Um ihnen gegenüber nicht ins Hintertreffen zu geraten, muss schnell gehandelt werden. Die passenden Umweltbedingungen dafür werden mit einem stabilen Regulierungsrahmen auf EU-Ebene und dem Digitalen Euro gerade geschaffen. Für die europäischen Banken und Vermögensverwalter gilt es deshalb jetzt verstärkt in praktisches Know-how für digitale Vermögenswerte zu investieren, sei es durch die Einrichtung spezialisierter Teams, die Zusammenarbeit mit Krypto-Fintechs oder durch direkte Investitionen in Start-ups. Wie schon vor zwölf Jahren bei der Einführung des Bitcoins könnte sich die Krise erneut als Katalysator erweisen, weshalb der während der Pandemie eingeschlagenen Digitalisierungspfad genutzt werden sollte, um dezentralen Ledgern entschieden zum Durchbruch zu verhelfen.

Maren Schmitz ist Partnerin bei KPMG im Bereich Financial Services und Leiterin des Asset Management Beratungsgeschäfts in Deutschland.

Weitere Informationen unter:
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