Software-Defined Vehicles als Chance für die deutsche Automobilindustrie
Die Zukunft der Mobilität: Software-Defined Vehicles als Chance für die deutsche Automobilindustrie
Von Dr. Moritz Neukirchner
Die deutsche Automobilindustrie steht unter enormen Druck. Jahrzehntelang war sie ein Symbol für Ingenieurskunst und wirtschaftlichen Erfolg, doch die Rahmenbedingungen haben sich grundlegend verändert. Neue Konkurrenten aus China, technologischer Innovationsdruck und politische Unsicherheiten zwingen die Branche, sich neu zu erfinden.
Besonders die Möglichkeit, Fahrzeuge durch regelmäßige Software-Updates über Jahre hinweg aktuell zu halten, stellt einen Paradigmenwechsel dar. Die Vorstellung, dass ein Fahrzeug nach der Produktion statisch bleibt, gehört der Vergangenheit an. Stattdessen wird das Fahrzeug zu einer lebendigen Plattform, die sich ständig weiterentwickelt – sei es durch Sicherheitsfunktionen, neue Fahrmodi oder personalisierte Dienste. Dies schafft nicht nur Mehrwert für den Kunden, sondern bietet Herstellern zusätzliche Einnahmequellen durch Abonnements und On-Demand-Dienste.
Während die Einführung von Elektrofahrzeugen in Deutschland stockt und die Politik oft uneinheitliche Signale sendet, zeichnet sich eine zentrale Erkenntnis ab: Die Zukunft des Automobils wird von Software bestimmt. Software-Defined Vehicles (SDVs) sind nicht nur eine technische Entwicklung, sondern werden zur Grundlage einer zukunftsfähigen Industrie.
SDV-Levels: Ein klarer Fahrplan für die Transformation
Um den technologischen Fortschritt von Software-Defined Vehicles besser greifbar zu machen, übernimmt die Industrie gerade eine Klassifizierung der Entwicklungsschritte hin zum SDV. Diese Levels, ursprünglich von Elektrobit vorgeschlagen, beschreiben die evolutionären Schritte hin zu einem vollständig softwaredefinierten Fahrzeug:
- SDV Stufe 0 – Softwareunterstützt:
In dieser Phase übernehmen Fahrzeuge mechanische Funktionen, die durch Software unterstützt werden. Beispiele hierfür sind Parkassistenten oder adaptive Tempomaten. Updates oder Konnektivität sind nicht möglich – die Funktionalität bleibt statisch und isoliert. - SDV Stufe 1 – Vernetzt:
Hier spielt die Konnektivität eine zentrale Rolle. Software vernetzt das Fahrzeug mit externen Diensten und bietet dynamische Informationen wie Live-Verkehrsdaten oder Handy-Integration. Die Software des Fahrzeugs bleibt jedoch noch statisch und Software wird höchstens in der Werkstatt aktualisiert, um Fehler zu beheben. - SDV Stufe 2 – Aktualisierbar:
Fahrzeuge erreichen die Fähigkeit, über Over-the-Air-Updates (OTA) regelmäßig aktualisiert zu werden ohne lästige Werkstattbesuche. Navigation, Sicherheits-Patches und Fehlerbehebungen können über das Internet durchgeführt werden. Die Funktionen und der Kundennutzen verändern sich über die Lebensdauer des Fahrzeugs jedoch nicht. - SDV Stufe 3 – Erweiterungsfähig:
In dieser Phase wird das Fahrzeug zu einer Plattform, die neue Funktionen und Dienste integrieren kann. Ein Beispiel wäre die Möglichkeit, durch Software-Upgrades neue Fahrmodi oder Komfortfunktionen zu aktivieren. Dies bietet OEMs neue Möglichkeiten, Kunden langfristig zu binden und zusätzliche Einnahmequellen zu erschließen. Solche Funktionerserweiterungen sind jedoch auf einzelne Fahrzeuggenerationen beschränkt, d.h. eine neue Funktion, die für das neueste Fahrzeug eingeführt ist, ist nicht automatisch auf älteren Fahrzeugen installierbar. - SDV Stufe 4 – Software-Plattform:
Fahrzeuge auf diesem Level können generationenübergreifende Software-Upgrades erhalten. Die Software ist vollständig dynamisch, und neue Funktionen können direkt in alle Fahrzeuge eines Herstellers eingespielt werden. Die Fahrzeuge erscheinen für den Endkunden immer auf dem neuesten Stand. Das Fahrzeug verbessert sich über seine Lebensdauer. - SDV Stufe 5 – Innovations-Plattform:
Die höchste Entwicklungsstufe macht das Fahrzeug zu einer vollständig offenen Plattform, die Drittanbietern ermöglicht, ihre Software zu integrieren. Das Fahrzeug wird Teil eines größeren Ökosystems mit vielfältigen Anwendungen und Diensten – vergleichbar mit einem Smartphone-Ökosystem.
Warum SDVs die Zukunft prägen
Die Transformation hin zu SDVs eröffnet nicht nur technologische, sondern auch wirtschaftliche Möglichkeiten. Ein Fahrzeug, das kontinuierlich mit neuen Funktionen und Upgrades versorgt wird, bleibt über Jahre hinweg relevant und attraktiv. Sicherheitsupdates und Bugfixes sind dabei lediglich Hygienefaktoren, die Kunden erwarten. Der wahre Wert liegt in neuen, erlebbaren Funktionen, die das Fahrerlebnis kontinuierlich verbessern.
Ein entscheidender Vorteil von SDVs ist zudem die Möglichkeit, völlig neue Geschäftsmodelle zu erschließen. Abonnementdienste, App-Integrationen und Funktionen auf Abruf bieten Herstellern zusätzliche Einnahmequellen. Diese Entwicklung wird umso relevanter, da der Wettbewerb nicht mehr nur auf technischer Ebene, sondern auch im Bereich der Nutzererfahrung geführt wird.
Herausforderungen und Lösungen
Die Einführung von SDVs stellt jedoch enorme Anforderungen an Hersteller. Traditionelle Entwicklungsprozesse, die stark auf Hardware fokussiert sind, reichen nicht aus, um die Flexibilität und Geschwindigkeit zu gewährleisten, die für SDVs notwendig sind. Besonders die Trennung von Soft- und Hardware wird zur zentralen Herausforderung. OEMs müssen ihre Lieferketten und Entwicklungsansätze neu denken, um modularere und flexiblere Systeme zu schaffen.
Die Qualitätssicherung muss ebenfalls differenziert werden. Infotainmentsysteme, die in der Wahrnehmung der Kunden mit Smartphones konkurrieren, erfordern agilere Entwicklungszyklen als sicherheitskritische Bereiche wie Fahrerassistenzsysteme. Nur so können Hersteller mit Technologiekonzernen konkurrieren, die den Markt zunehmend dominieren.
Open Source als Schlüssel zur Effizienz
Ein entscheidender Hebel zur Beschleunigung dieser Transformation liegt in Open-Source-Lösungen. Plattformen wie Elektrobits EB corbos Linux for Safety Applications zeigen, dass Sicherheit und Flexibilität kein Widerspruch sein müssen. Durch die Trennung von sicherheitskritischen Funktionen und dem Betriebssystem können Updates effizienter bereitgestellt werden. Gleichzeitig reduziert Open Source die Entwicklungs- und Wartungskosten erheblich und schafft die Grundlage für eine langfristige Innovationsfähigkeit.
Langfristige Auswirkungen auf die Automobilindustrie
Die Transformation hin zu SDVs hat weitreichende Auswirkungen, die über die Technologie hinausgehen. Sie verändert die gesamte Wertschöpfungskette und den Arbeitsmarkt. Während traditionelle Jobs in der Hardwareproduktion zurückgehen, entstehen mehrere Möglichkeiten in der Softwareentwicklung, Datenanalyse und IT-Sicherheit.
Auch die Beziehung zwischen Herstellern und Zulieferern wird sich grundlegend verändern. Zulieferer, die bisher vor allem Hardwarekomponenten geliefert haben, müssen sich auf Softwarekompetenzen spezialisieren. Gleichzeitig entstehen neue Partnerschaften mit Tech-Unternehmen, die für die Entwicklung und Integration von Softwarelösungen unverzichtbar werden.
Fazit: SDVs als Wendepunkt für die deutsche Automobilindustrie
Software-Defined Vehicles stehen sinnbildlich für den Wandel, den die Automobilindustrie durchlaufen muss, um sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu stellen. Sie bieten weit mehr als nur technologische Innovation – sie stellen eine neue Denkweise dar, die auf Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und kontinuierliche Weiterentwicklung setzt.
Der Wandel hin zu SDVs ist keine Option, sondern eine Notwendigkeit. Das Fahrzeug stellt im Leben der Kunden häufig die zweitgrößte Investition dar. Genauso, wie niemand ein Haus kaufen würde, das nie renoviert oder saniert werden kann, wird in Zukunft niemand ein Fahrzeug kaufen, dass über seine Lebensdauer keine Aktualisierung erfährt. Somit ist der Übergang zum SDV essentiell zum Erhalt und Wachstum der Marktanteile.
Deutsche Automobilhersteller stehen am Scheideweg. Um die zentralen Herausforderungen zu meistern und das SDV zu verwirklichen, ist die Trennung von Software und Hardware und ein grundlegender Umbau der Wertschöpfungskette erforderlich. Dieser Umbau ist in vollem Gange. Entscheidend für den Erfolg ist wie konsequent und mit welcher Geschwindigkeit er gemeistert wird. Das Ziel ist es mit den schnellen Innovationszyklen von Tech-Konzernen mitzuhalten, die zunehmend in den Markt drängen und die Mobilitätswende entscheidend mitgestalten.
Über den Autor:
Dr. Moritz Neukichner ist Sr. Director Strategic Product Management Software-defined Vehicle bei Elektrobit. Moritz setzt sich leidenschaftlich für die Gestaltung der Software-Revolution in der Automobilindustrie hin zu wirklich softwaredefinierten Fahrzeugen ein.
Als Leiter der Architektur für Elektrobits Classic- und Adaptive-AUTOSAR-Produktlinien hat Moritz Neukichner technologische Veränderungen im Automobilbereich mitgestaltet, wie z.B. die Markteinführung des ersten Hochleistungssteuergeräts mit Adaptive AUTOSAR und die breite Einführung von Multi-Core-Architekturen in Classic AUTOSAR.
Als früheres Mitglied des Adaptive AUTOSAR Architecture Board (TF-ARC) hat er zur technologischen Definition des Industriestandards beigetragen. Moritz studierte Elektrotechnik an der Universität Braunschweig und promovierte im Bereich Echtzeitsysteme.
Aufmachermotiv by:
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