Vertrauen ist die zentrale Währung
Wie Unternehmen sich in die „Digitale Transformation“ einfinden können, versucht Prof. Dr. Volker Gruhn zu beschreiben. Im Interview mit der TREND REPORT-Redaktion nimmt er Bezug auf die aktuellen Entwicklungen und plädiert für ein systematisches Herangehen an die wachsenden Anforderungen. Wichtig ist eine umfassende Betrachtung und das möglichst viele Abteilungen im Unternehmen „an einem Tisch sitzen“.
Herr Prof. Gruhn, „Digitale Transformation“ ist zunächst eine höchst individuelle Anforderung. Welche Fragen bringen Entscheider auf den richtigen Weg?
Diese Fragen sind wie der ganze Prozess der Digitalen Transformation von Unternehmen zu Unternehmen verschieden. Ich glaube nicht, dass pauschale Ansätze wie „In sechs Schritten zum digitalen Unternehmen“ oder ähnliche hier wirklich weiterhelfen. Wovon ich überzeugt bin, ist, möglichst viele Experten aus ganz unterschiedlichen Unternehmensbereichen zusammenzubringen. Immer noch wird das Thema Digitale Transformation zu sehr in den IT-Abteilungen verankert. Produktentwicklung, Marketing, Sales oder Support gehören aber genauso mit an den Tisch, wenn ein Unternehmen die Möglichkeiten für sich ausloten will. Erfolgreich wird nur sein, wer den ganzen Kunden mit allen Prozessen versteht. Deswegen ist die einzige Frage, die Entscheider auf den richtigen digitalen Weg bringen wird, diese: Was will unser Kunde? Um sie zu beantworten, braucht es das Know-how aus allen Unternehmensbereichen.
In vielen Bereichen haben sich bereits Standards ergeben, welche Anforderungen auf jeden Fall erfüllt werden müssen – z.B. aus der Kundenerwartung heraus. Wo sehen Sie branchenübergreifend den drängendsten Handlungsbedarf?
Die großen Player des IT- und Internetzeitalters setzen die Maßstäbe für die Kundenerwartungen. Amazon, Apple oder Google mögen nie ein Auto verkaufen, Versicherungen anbieten oder Industrieanlagen herstellen, aber sie heben das Niveau für Services quer durch alle Branchen. Anwender, die einmal mit der modernen Benutzeroberfläche eines mobilen Betriebssystems gearbeitet haben, werden gegenüber komplexen Prozessen, Medienbrüchen und tristem Design immer weniger Toleranz zeigen. Für alle Unternehmen, egal wie nah oder fern sie sich der Digitalen Transformation wähnen, egal ob Dienstleister oder Produzent, wird die Messlatte in punkto Kundenorientierung immer weiter angehoben. Auch hier gilt: Unternehmen müssen den ganzen Kunden sehen. Die Erwartungshaltung, die ein simpler und durchdachter Bestellprozess beim Kunden weckt, darf nicht durch eine bürokratische Buchhaltung im Fall einer Reklamation enttäuscht werden.
Passen die bestehenden Unternehmenskulturen zu den Anforderungen der Digitalen Transformation?
An vielen Stellen wirkt die Digitale Transformation wie ein Beschleuniger. Nehmen Sie Aufgabenbereiche wie Produktentwicklung, Marktforschung, Produktion oder Distribution: Den Experten stehen Werkzeuge zur Verfügung, die bisher langwierige und komplexe Prozesse vereinfachen. Hinzu kommen die veränderten Kundenerwartungen. Auch bei der Erfüllung dieser Erwartungen spielt der Faktor Zeit eine immer kritischere Rolle. Wer kann neue technische Möglichkeiten besser in seine Lösungen integrieren? Wer kann zügiger ein Update veröffentlichen? Wer hat ein neues Angebot schneller am Markt? Agilität ist längst kein Ansatz mehr, der nur in IT-Abteilungen gehört. Dieses Umdenken muss sich auch in der Unternehmenskultur widerspiegeln. Für Unternehmen bietet die aktuelle Phase des Umbruchs die Chance, Abläufe und Aufbauorganisation auf den Prüfstand zu stellen. Passt die Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten, zu den Anforderungen der Märkte?
4. Wie sollten Unternehmen aus Ihrer Sicht die Digitale Transformation konkret angehen?
Das Entscheidende ist, nichts Relevantes zu übersehen und die potenzialträchtigen Themen zu finden. Deshalb sollten die Verantwortlichen die Möglichkeiten der Digitalen Transformation systematisch untersuchen. Nur so werden, sie am Ende ein klares Verständnis davon gewinnen, an welchen Stellen und in welcher Weise sie investieren wollen. Dazu müssen sie ganz unterschiedliche Digitalisierungstreiber analysieren und bewerten. Um diesen Prozess mehr zu systematisieren und damit zu vereinfachen, haben wir die sogenannten „Objects of Interests“ (OoI) entwickelt. Als ein Object of Interest wird ein Objekt bezeichnet, dessen unmittelbare Einbindung in die Geschäftsprozesse des Unternehmens das Potenzial hat, diese Geschäftsprozesse maßgeblich zu vereinfachen.
Bei der systematischen Suche nach den OoI bietet sich der Einsatz eines geeigneten Projektwerkzeugs wie dem „Interaction Room for Digitalization Strategy Development“ an. Er hilft den Entscheidern dabei, sich schnell und umfassend ein Bild der eigenen Situation und der Möglichkeiten rund um die Digitale Transformation verschaffen. Dazu stellt er sicher, dass alle relevanten Beteiligten an einen Tisch – beziehungsweise in einem Raum – zusammenkommen und Konzepte entwickeln, die durch ihre Nähe zum Tagesgeschäft schnell umgesetzt werden können. Mit seiner Mischung aus planvollem Vorgehen und kreativer Arbeit sorgt er dafür, dass Unternehmen lückenlos alle Chancen der Digitalen Transformation erkennen.
Stichwort Infrastruktur: Plädieren Sie für eine „IT der zwei Geschwindigkeiten“ um mit der digitalen Transformation jetzt zu starten?
Ich plädiere für eine „IT des einen Kundenverständnisses“! Dem Kunden wird es im Zweifel gleichgültig sein, wie die Systeme im Hintergrund aussehen, für ihn zählt nur sein Nutzererlebnis. Die Verantwortlichen müssen exakt herausarbeiten, an welchen Schnittstellen dieses Erlebnis geprägt wird und welche Faktoren es beeinflussen. Dann gilt es, Schnittstelle für Schnittstelle einen durchgängigen Prozess zu gestalten, der alle Anforderungen erfüllt. Und erst dann kommt die Technologie ins Spiel. Die Frage, welche Aufstellung die richtige ist, hängt von unternehmensindividuellen Faktoren ab. Da spielt die Innovationsneigung der Branche ebenso eine Rolle wie das vorhandene Fachwissen der Mitarbeiter oder die Auswahl des IT-Dienstleisters. Eine IT der zwei Geschwindigkeiten kann, gerade wenn es darum geht, kurzfristig in digitale Themen einzusteigen, ein geeigneter Ansatz sein. So ein Konzept erhöht an entscheidenden Stellen die Geschwindigkeit, mit der IT-Abteilungen arbeiten können. Aber es kann auch neue Gräben schaffen. Die Verantwortlichen müssen darauf achten, dass „schnelle“ und „langsame“ IT nicht dauerhaft auseinander laufen. Die ganze Organisation muss getragen werden von einem gemeinsamen Wertesystem – eben das des gemeinsamen Kundenverständnisses.
Wie kann Digitalisierung zu mehr Vertrauen seitens der Kunden führen?
Meiner Meinung nach sollten Unternehmen diese Frage genau andersrum betrachten: Welche Rolle spielt das Vertrauen beim Aufbau digitaler Geschäftsmodelle? Jedes Unternehmen muss das Thema Digitale Transformation auf Basis seiner Geschichte, seiner Kultur, seiner Kunden, seiner Abläufe und seiner Märkte anders angehen. Aber die grundsätzliche Herausforderung, vor der Entscheider stehen, ist überall ähnlich. Es geht ganz elementar darum, den Kontakt zum Kunden nicht zu verlieren. Es kommt darauf an, die bestehende Vertrauensbasis in eine neue Welt zu übertragen. Das ist eine Welt mit neuen Technologien, neuen Wettbewerbern, neuen Produkten und neuen Services. Aber hier wie da gilt: Vertrauen ist die zentrale Währung. Je virtueller ein Angebot, desto größer muss das Zutrauen in den Anbieter und seine Zuverlässigkeit sein.
Auf dieses Thema, Vertrauen in all seinen Facetten, müssen Konzepte zur Digitalen Transformation aufgebaut sein. Unternehmensentscheider sollten sich ständig fragen, an welchen Stellen im Prozess das Vertrauen ihrer Kunden – in die Datensicherheit, die Abläufe oder die Kompetenzen der Mitarbeiter – eine besonders große Rolle spielt. Das ist fast immer dann der Fall, wenn Kunden etwas offenbaren, etwa Lebensgewohnheiten oder Gesundheitsinformationen, wenn finanzielle Aspekte und Zahlungsvorgänge betroffen sind, oder wenn persönliche Daten hin- und herfließen, beispielsweise Fotos und Dokumente. Diese Stellen herauszuarbeiten und konsequent zu besetzen, ist eine der Kernaufgaben für das Projektteam, das sich mit der Digitalen Transformation beschäftigt.
Weitere Informationen unter:
www.adesso.de
Prof. Dr. Volker Gruhn
Prof. Dr. Volker Gruhn gründete 1997 die adesso AG mit und ist heute Vorsitzender des Aufsichtsrats. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Software Engineering an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte in diesem Bereich liegen auf mobilen Anwendungen und der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Digitalen Transformation, insbesondere der Entwicklung und des Einsatzes von Cyber-Physical Systems.
Prof. Dr. Gruhn ist Autor und Co-Autor von über 300 nationalen und internationalen Veröffentlichungen und Konferenzbeiträgen.
Bildquelle / Lizenz Prof. Gruhn: adesso AG
Bildquelle / Lizenz Aufmacher: CHRISTIAN NIELINGER (ESSEN)