„Unternehmen brauchen ein neues Betriebssystem“

„Der größte Hemmschuh in Sachen digitale Transformation ist die mangelnde Bereitschaft für eine neue Führungskultur. Es braucht quasi ein neues Betriebssystem bzw. Operating System, damit Digitalisierung nicht nur in einzelnen isolierten Bereichen stattfindet, sondern innerhalb des großen Ganzen“, sagt Helmut Scherer, Managing Director Deutschland bei der Digital- und Innovationsberatung Futurice im Gespräch mit TREND REPORT.

Herr Scherer, wie können Unternehmen durch die digitale Transformation resilienter werden? 
Werfen wir einen Blick auf die letzten Jahre, dann wird klar, dass Unternehmen von dem Selbstverständnis gelebt haben, dass ihre Produkte den entscheidenden Unterschied im Markt machen. Lange Zeit entsprach dies auch der Realität, da die Märkte stabil waren und dieses Vorgehen Gewinn eingebracht hat. Mittlerweile ist es jedoch so, dass es auf dem internationalen Markt ein großes Angebot an sehr ähnlichen Produkten gibt, welches sich nur noch durch den Preis unterscheidet – so entsteht für die Unternehmen ein enormer Preisdruck, um sich vom Wettbewerb abzugrenzen. 
Die digitale Transformation eröffnet Unternehmen zunächst einmal neue Differenzierungsmöglichkeiten. Durch Investitionen in die Konnektivität sowie die digitale Infrastruktur können Unternehmen Daten generieren und dafür nutzen, zielgerichtete und auf die Kundenbedürfnisse zugeschnittene digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln. Die Kombination aus analogem Produkt und digitalen Services erzielt weitaus höhere Preise als der Verkauf von rein physischen Produkten. Ein weiterer Vorteil ist: Durch die Verbindung, die durch diese digitalen Lösungen und Dienstleistungen entsteht, findet ein regelmäßiger Austausch mit den Kunden statt. So werden Unternehmen, die bisher lediglich Produktlieferant waren, zu echten Geschäftspartnern. Der Einblick in die Daten ermöglicht außerdem ein tieferes Verständnis der Produktnutzung und der Kundenbedürfnisse. Dies hilft wiederum dabei Services zu verbessern und Trends frühzeitig zu erkennen. Auf dieser Basis lassen sich weitere Lösungen und Dienstleistungen schaffen. 
Kurz gesagt: Die digitale Transformation macht Unternehmen resilienter, da sie Möglichkeiten schafft, sich vom Wettbewerb zu unterscheiden. Zugleich versetzt es sie in die Lage proaktiv auf Bedürfnisse und Trends einzugehen: Statt nur reaktiv Signale aus dem Markt aufzunehmen, ist durch die Vernetzung und die Generierung von Daten ein vorausplanendes und zielgerichtetes Handeln möglich. Zudem können digitale Geschäftsmodelle durch agile Entwicklungsmethoden schneller an veränderte Umstände angepasst werden. 

In der Vergangenheit hat man nahezu perfekte Prozesse für die Entstehung, Vermarktung und den Vertrieb eines Produktes geschaffen, bevor man damit auf Kunden zugegangen ist. Bei der Entwicklung digitaler Innovationen kommt es hingegen auf iterative, agile und schlanke Prozesse und Methoden an. Es geht darum, stetig Mehrwert an den Markt zu bringen und zu evaluieren, wie hoch der Nutzen ist.

Helmut Scherer

Was verbreitet sind Ihrer Meinung nach diese Erkenntnisse? Was sind Ihre persönlichen Erfahrungswerte?
Entgegen der allgemeinen Meinung, dass deutsche Unternehmen komplett im digitalen Mittelalter leben, sehen wir bei Futurice bei unserer täglichen Zusammenarbeit mit Unternehmen, dass das Bewusstsein für die Notwendigkeit zur Digitalisierung durchaus vorhanden ist. Und das über viele Branchen hinweg, wie z.B. im Mobilitätsektor, Gesundheitswesen oder auch in der Industrie. Das liegt zum einen daran, dass Unternehmen nach Möglichkeiten suchen, den Unternehmenswert zu steigern. Zum anderen an dem stetig steigenden Druck durch den internationalen Wettbewerb. Diesen beiden Aspekten begegnet man am besten durch softwarebasierte Services, die einen signifikanten, messbaren Mehrwert für Kunden bieten. 
Wir sehen, dass diese Einsicht mittlerweile weit verbreitet ist und viele Unternehmen bereits die ersten Schritte auf dem Weg der digitalen Transformation gegangen sind. In den vergangenen Jahren wurde viel in die Vernetzung, Konnektivität und den Aufbau digitaler Infrastruktur investiert. Die Herausforderung jetzt sind die weiteren Schritte: Wie können die Daten, die generiert werden, effizient genutzt werden? Wie entwickelt man daraus innovative Geschäftsmodelle? Und wie bringt man das Unternehmen als Ganzes einen Schritt weiter? 

Sie sagen, es braucht eine neue Führungskultur, ein neues Betriebssystem für Unternehmen. Können Sie das genauer erläutern? 
Wie bereits erwähnt, sind Unternehmen die ersten Schritte auf dem Weg der digitalen Transformation bereits gegangen. Viele Firmen verwenden bei der täglichen Arbeit digitale Tools und erzeugen somit Daten. Werden Unternehmensstrukturen aber nicht geöffnet und die verschiedenen Abteilungen nicht miteinander verbunden, dann laufen digitale Prozesse isoliert und nur innerhalb bestimmter Bereiche ab. Hier die Verbindung wiederherzustellen – zwischen den Menschen, den Daten, Prozessen und Bereichen – ist eine große Herausforderung. Es geht also nicht nur um den Ausbau digitaler Fähigkeiten, es ist eine neue Unternehmensstruktur und damit auch Führung gefragt, die auch vor einer Umstellung der operativen Abläufe nicht Halt macht. 
Außerdem funktionieren digitale Innovationen anders als klassische Produktinnovationen. In der Vergangenheit hat man nahezu perfekte Prozesse für die Entstehung, Vermarktung und den Vertrieb eines Produktes geschaffen, bevor man damit auf Kunden zugegangen ist. Bei der Entwicklung digitaler Innovationen kommt es hingegen auf iterative, agile und schlanke Prozesse und Methoden an. Es geht darum, stetig Mehrwert an den Markt zu bringen und zu evaluieren, wie hoch der Nutzen ist. Dinge, die gut funktionieren und hilfreich für die Kunden sind, werden weiterverfolgt. Lösungen, die keinen Zuspruch finden, lässt man schnell wieder fallen. 
All die beschriebenen Aspekte bedeuten für Unternehmen, die sich bisher eher auf klassische, analoge Produkte konzentriert haben, eine große Herausforderung. Denn um diesen zu begegnen, braucht es einen umfassenden Mindset-, Kultur-, und Organisationswandel – kurz: ein neues Betriebssystem. 

„Viele Unternehmer begreifen bisher ihr physisches Produkt als den zentralen Punkt der Kundenbedürfnisse. Einfach gesagt: das Produkt ist die Sonne und der Kunde der Planet, der sich darum dreht. Doch dieses Denken ist nicht mehr zeitgemäß“, erläutert Helmut Scherer.

Was also raten Sie jetzt ganz konkret den Führungskräften? 
Die Führungskräfte müssen sich darüber klar werden, dass die Zeiten, in denen die Informationshoheit und alle Entscheidungsgewalt bei ihnen lagen, vorbei sind. Das Stichwort ist hier: data driven decision making. 
Durch die stetige Generierung, Nutzung und Validierung von Daten, stehen diese jedem im Unternehmen zur Verfügung. Das kommt einer Demokratisierung der Entscheidungsfindung gleich. Das Management sollte diese Transparenz unbedingt zulassen – auch wenn es sich im ersten Moment nach einem Machtverlust anfühlt. Denn dadurch entstehen viele Vorteile: es macht Unternehmen agiler und reaktiver und schafft so einen Wettbewerbsvorteil. Für die Implementierung erfolgreicher digitaler Prozesse und die Entwicklung innovativer Services ist größtmögliche Transparenz unerlässlich. 
Außerdem muss sich der Fokus stärker auf die Customer Experience richten. Viele Unternehmer begreifen bisher ihr physisches Produkt als den zentralen Punkt der Kundenbedürfnisse. Einfach gesagt: das Produkt ist die Sonne und der Kunde der Planet, der sich darum dreht. Doch dieses Denken ist nicht mehr zeitgemäß. Vielmehr ist es heutzutage so, dass der Kunde sich in einem Ökosystem (oder Planetensystem) aus Produkten und Dienstleistungen befindet, die seinen Anforderungen und Bedürfnissen entsprechen. Diejenigen, die in einem solchen System geschickt ihren Platz finden, oder gar ein solches System definieren, zählen zu den Gewinnern. 
Als letzten Punkt raten wir Unternehmen unbedingt, Investitionen in Digitalisierung und Innovation nicht zurückzufahren. Futurice ist in vielen verschiedenen Ländern tätig und diesen Trend sehen wir vor allem in Deutschland. Sobald sich eine Krise zeigt – und momentan müssen wir mit vielen Krisen und Herausforderungen parallel zurechtkommen – werden Investitionen auf das Kernprodukt beschränkt. Investitionen in digitale Dienste oder Produkte, die den Wert des Kernprodukts erhöhen, werden hingegen stark eingeschränkt. In Skandinavien z.B. sehen wir diesen Trend nicht, Investitionen werden in gleichem Maße im analogen als auch digitalen Teil von Produkten fortgeführt. Beide Aspekte sind gleich wichtig – dieses Bewusstsein ist noch nicht komplett in deutschen Führungsebenen angekommen. 

„Der Fisch stinkt immer vom Kopf her!“ – Gibt es Management-Fehler, die sich aus Ihrer Sicht immer wiederholen? 
Für die Digitalisierung gibt es kein Universalrezept – auch wenn viele Manager das glauben mögen. Problematisch ist immer wieder, dass an Probleme vom falschen Ende aus herangegangen wird. Viele denken zuerst an die Lösungsmöglichkeiten: Künstliche Intelligenz, Machine Learning, Security – das alles sind Technologien, die jeder gerne in seinem Unternehmen verwenden möchte, weil sie als der Inbegriff der Digitalisierung gelten. Aber passen diese Technologien auch wirklich zu den Problemen, die es zu lösen gilt? Sich diese Frage zu stellen wird oft vergessen, ist aber essentiell. Nur so kann man die genannten Begriffe mit Leben füllen und die Herangehensweisen, Prozesse und Lösungen definieren, die zu den jeweiligen Unternehmenszielen passen. 
Ein weiterer Fehler, der sich oft wiederholt, ist, dass verkannt wird, dass die digitale Transformation eine langfristige Initiative ist. Wie bereits erwähnt, geht es dabei meist um einen umfassenden Kulturwandel im Unternehmen. Das benötigt viel Zeit – kurzfristige KPIs sind da zu kurz gegriffen. Deshalb wäre es beispielsweise viel besser bei Transformationsprojekten nicht auf Quartalszahlen zu schauen, sondern darauf zu blicken, wie sich der gesamte Unternehmenswert über einen längeren Zyklus entwickelt. 

Wir leben in einer Zeit, in der sich Technologien gegenseitig beschleunigen im Sinne ihrer Weiterentwicklung. Laufen wir Gefahr zu einer „Wirtschaft der zwei Geschwindigkeiten“ zu werden? 
Verpassen es Unternehmen die digitale Transformation mitzugehen und bleiben bei rein analogen Angeboten stehen, dann besteht diese Gefahr durchaus. 
Allerdings ist es doch heute schon so, dass man die digitale von der analogen Welt kaum mehr trennen kann. Beide Zweige sind gleich wichtig und sollten daher auch zusammen gedacht werden. Wenn man hier eine starke Verbindung schafft, dann gibt es auch keine zwei Geschwindigkeiten. 
Hier kommt auch wieder der Ökosystem-Gedanke ins Spiel. Ein Ökosystem ist ein Netzwerk aus unterschiedlichen Komponenten. verschiedenen Akteuren, Dienstleistungen, Plattformen und Produkten, All diese Aspekte bauen aufeinander auf, sind voneinander abhängig und verstärken sich gegenseitig. Findet man als Unternehmen seinen Platz in einem solchen Ökosystem, kann man gemeinsam mit anderen Playern einen Mehrwert für Kunden erschaffen und von der Zusammenarbeit profitieren. 


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