Lieferketten in der Automobilindustrie

Schließen sich Nachhaltigkeit und Kosteneffizienz im Supply Chain Management gegenseitig aus? Beispiele aus der Automobilindustrie zeigen, dass sich mit modernen Optimierungsalgorithmen und einer stärkeren Zusammenarbeit von Unternehmen Logistiknetzwerke durchaus so planen lassen, dass sie beiden Ansprüchen genügen.

Die Automobilindustrie steht durch die Mobilitätswende und der damit verbundenen Umstellung auf elektrische Antriebe vor enormen Veränderungen, doch in den vergangenen Monaten hatte sie mit einigen zusätzlichen Herausforderungen zu kämpfen. Zum einen war da die Corona-Pandemie, die den Fahrzeugabsatz reduzierte und die Produktion in den Werken erschwerte. Zum anderen sorgen steigende Rohstoffpreise und Lieferengpässe bei wichtigen Bauteilen wie Computerchips, aber auch geschlossene Containerterminals in wichtigen Häfen und der durch die „Ever Given“ blockierte Suezkanal dafür, dass Supply Chain Manager alle Hände voll zu tun hatten und weiterhin haben werden.

Dabei sank die weltweite Automobilproduktion im zweiten Quartal 2020 wegen der Auswirkungen der Pandemie um mehr als 32 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, und im dritten Quartal lag das Minus noch immer bei fast 23 Prozent1. Doch trotz der geringeren Zahl produzierter Fahrzeuge bleibt es eine schwierige Aufgabe, das richtige Auto zur richtigen Zeit mit größtmöglicher Kosteneffizienz an den richtigen Ort zu transportieren, denn die Logistiknetzwerke der Hersteller sind inzwischen extrem komplex. Sie erstrecken sich über Transportwege auf der Straße, Schiene und zu Wasser und verbinden Werke mit Häfen, Lager- und Umschlagsplätzen sowie Händlern. Bei der Planung müssen die Logistiker und Supply Chain Manager neben Kosten und Terminen unzählige Faktoren berücksichtigen, darunter die Konditionen verschiedener Spediteure (Tarife, Kapazitäten, Vorlaufzeiten) und die Qualität von deren Arbeit (Pünktlichkeit, Transportschäden).

Ein typisches Logistiknetzwerk in der Automobilindustrie umfasst mehrere zehntausend Routen, und für jedes Transportszenario existiert eine sechs- bis siebenstellige Anzahl von Varianten. Selbst wenn keine Störungen die Tagesplanung durcheinanderbringen oder Hersteller lediglich eine Kostenoptimierung anstreben, lohnt sich daher der Einsatz intelligenter Software für die Planung und Optimierung der Warenströme. Das zeigt das Beispiel Toyota Logistics Services (TLS), das seine Outbound-Logistik mit 58.000 aktiven Routen in den USA mithilfe von Algorithmen und Spezialisten der INFORM optimiert. Mit allen Optionen – von verschiedenen Spediteuren über verschiedene Häfen, Distributionszentren und Händler bis hin zu den einzelnen Rampen an den Umschlagsplätzen – ergeben sich dort für jedes Transportszenario bis zu 1,8 Millionen Möglichkeiten.


„Maschinelles Lernen kann zwar helfen, aus Daten Erkenntnisse zu ziehen, für wichtiger halte ich aber einen anderen Aspekt von KI: Entscheidungsintelligenz.“

Hartmut Haubrich

Gastautor: Hartmut Haubrich,
Director Finished Vehicle Logistics,
INFORM GmbH

Der Wunsch nach Nachhaltigkeit wächst

Die zurückliegenden Monate haben gezeigt, dass Lieferketten in einer immer komplexeren, volatilen und schwer planbaren Welt regelmäßig gestört oder unterbrochen werden. Allein mit Excel-Tabellen und jahrelanger Erfahrung sind die Verantwortlichen heute kaum noch in der Lage, alle Optionen zu berücksichtigen und eine größtmögliche Kosteneffizienz zu erreichen. Zumal neben der termintreuen Lieferung und niedrigen Kosten zunehmend weitere Ziele auf der Agenda der Automobilhersteller nach oben rücken – schließlich wollen auch sie ihren Beitrag zum Erreichen der Ziele des Pariser Klimaabkommens und zum Netto-Null-Emissionsziel der EU leisten. Auf maximale Kosteneffizienz getrimmte Lieferketten genügen dafür nicht.

Wie wichtig Nachhaltigkeitsziele bereits jetzt bei der Planung von Logistiknetzwerken sind, zeigt eine Studie des Capgemini Research Institute, für die 1.000 Unternehmen aus verschiedenen Branchen in Europa, den USA und China befragt wurden2. Hatten niedrige Kosten 2018 noch für 77 Prozent der Befragten die höchste Priorität, so galt das 2020 nur noch für 66 Prozent. Der Rest strebt nach mehr Resilienz und Nachhaltigkeit, wobei 27 Prozent dafür sogar steigende Kosten akzeptieren – bis zu 19 Prozent für robustere und bis zu 18 Prozent für nachhaltigere Lieferketten.



>>> Der Experte im Interview

Resiliente Automotive-Lieferketten

Algorithmen sorgen für die richtige Balance

Optimierungsalgorithmen, die auf mathematische Modelle aus Operations Research oder künstliche Intelligenz setzen, arbeiten mit echten Zahlen aus dem Tagesgeschäft und liefern daher sehr verlässliche Prognosen und zuverlässige Handlungsempfehlungen. Sie kommen sowohl mit großen Datenmengen als auch mit komplexen Planungsprozessen zurecht und berechnen in Simulationen die verschiedensten Szenarien. Dabei berücksichtigen sie alle entscheidungsrelevanten Kriterien, um Planern und Disponenten die optimale Vorgehensweise zu empfehlen.

Aber was heißt eigentlich optimal? Letztlich müssen die Verantwortlichen festlegen, auf welche Kriterien und Ziele der Algorithmus bei der Ausarbeitung des Liefernetzwerks hinarbeiten soll. In einer Fallstudie von INFORM wurden Berechnungen für einen Automobilhersteller durchgeführt, der Fahrzeuge aus seinen Werken in den USA, Südafrika, Großbritannien und Deutschland bis zu Autohäusern auf dem polnischen Markt transportieren wollte. Das Ziel war es, eine optimale Konfiguration für die Verteilungsinfrastruktur zu berechnen, also zu bestimmen, welche Transportmittel jeweils für welche Strecke und welche Häfen genutzt werden.

Algorithmen können beispielsweise die Kosten optimieren, indem sie Lieferungen zusammenfassen und über einen einzigen Hafen laufen lassen, von wo der Weitertransport zu Lager- und Umschlagsplätzen über die Schiene erfolgt. Von dort werden die Fahrzeuge per Lkw an die Händler geliefert. Alternativ können sie kürzere Transportzeiten priorisieren und schon ab dem Hafen auf Lkw-Transporte setzen – was allerdings die Kosten und Emissionen nach oben treibt. In einem Szenario mit dem Ziel möglichst geringer Emissionen empfiehlt der Algorithmus daher Schiffstransporte zu regionalen Häfen und den Weitertransport mit Zügen. Erst auf der letzten Meile, zum Händler, kommen dann Lkws zum Einsatz.

Für alle drei Szenarien liefern Optimierungsalgorithmen deutliche Verbesserungen gegenüber althergebrachten Planungsprozessen, wobei die Ziele sich nicht gegenseitig ausschließen. Automobilhersteller können sie durchaus unterschiedlich gewichten, um eine gute Balance aus geringen Emissionen, niedrigen Kosten und kurzen Lieferzeiten zu erreichen. So erhöhen sie ihre Nachhaltigkeit, ohne dass dies unkontrolliert zulasten von Kosten oder Lieferzeiten geht.

Klimaschutz braucht Mut zur Zusammenarbeit

Auch wenn sich die Automobilhersteller bereits für den Klimaschutz engagieren, braucht es doch angesichts der Größe der Aufgabe nicht nur die Initiativen jedes Einzelnen, sondern überdies eine unternehmensübergreifende Zusammenarbeit. Der Austausch über Projekte und Erfahrungen kann da nur der Anfang sein. Warum nicht die Warenströme gemeinsam optimieren und planen, um Transportrouten und Transportkapazitäten besser auszulasten, Leerfahrten zu vermeiden und die Emissionen weiter zu reduzieren? Warum kein gemeinsames europäisches Logistiksystem der Automobilindustrie aufbauen, in dem intelligente Algorithmen die Kosten, Lieferzeiten und Emissionen optimieren?

Betrachtet man die aktuell noch getrennt geplanten eingehenden und ausgehenden Warenströme der gesamten Automobilindustrie, wird das Potenzial eines solchen ganzheitlichen Ansatzes schnell sichtbar.

Für die Hersteller wäre die Bündelung ihrer Warenströme eine Win-Win-Situation, weil sie sowohl ökonomischen als auch ökologischen Zielen dient. Einige Initiativen wie die European Logistics Users Providers and Enablers Group (ELUPEG) bemühen sich bereits, kartellrechtliche Bedenken gegen eine solche Zusammenarbeit auszuräumen. Bleibt die Frage, ob die Hersteller den Mut haben, einen solchen Weg zu beschreiten.

https://www.inform-software.de/

1 www.statista.com/statistics/1097267/worldwide-motor-vehicle-production-growth
2 www.capgemini.com/wp-content/uploads/2020/11/Fast-forward_Report.pdf

Personenfoto: Quelle: INFORM)

2 Kommentare

Kommentare sind deaktiviert.