Industrielle KI – Im Tal der Tränen?

Autor: Dr.-techn. DI Andreas Schumacher

Autorenvorwort: Der Reiz Teile dieses Textes mit einem KI-Textgenerierungstool zu verfassen oder zumindest zu konzeptionieren, lag unbestreitbar auf der Hand, diesem Reiz wurde widerstanden. In naher Zukunft werden Texte dieser Art wohl die Minderheit darstellen.

Künstliche Intelligenz als (Industrielle) Revolution?

Bereits das Wort „künstliche Intelligenz“ (KI) löst aktuell, auch im industriellen Kontext, den Anschein einer Revolution aus, welche mit dem Ausruf der „Industrie 4.0“ bereits im Jahr 2011 erwartet wurde. Künstliche Intelligenz etwa definiert als „[…] the ability of a digital computer or computer-controlled robot to perform tasks commonly associated with intelligent beings” (vgl. Britannica) ist konzeptionell seit der ersten Revolution und Automatisierungswelle im 18. Jhdt. bekannt. Während jedoch vormalige technologische Revolutionen, wie jene der Automatisierung, die Ersetzbarkeit manueller und kognitiver Routinearbeiten aufzeigten, rüttelt die Künstliche Intelligenz nun erstmals an den noch verbleibenden Nicht-Routine-Arbeiten wie Kreativtätigkeiten, welche als unantastbar menschliche gelten. Sogar Charakteristiken wie Empathie oder Leidenschaft werden neuerdings bereits von Algorithmen ununterscheidbar abgebildet. So bewerteten Empfänger:innen von medizinischen Online-Ratschlägen die Konversationen mit einem KI-Tool als empathischer als jene mit menschlichen Mediziner:innen. Dies zeigt, dass philosophische und ethische Aspekte von KI intensiv zu diskutieren sind, etwa ob KI-generierte Inhalte als solche gekennzeichnet werden müssen. Die Chancen stehen jedenfalls gut, dass wir die Lawine an KI-Lösungen ex-post als Start einer industriellen Revolution bezeichnen werden, wie wir uns diese vom Ausruf der Industrie 4.0 erwartet hätten.

Ist die Industrielle KI im Tal der Tränen?

Der bekannte Gartner Hype Cycle prophezeit für jede Technologie eine Phase überzogener Erwartungen, bevor diese nach einer Bereinigung der Erwartungen (Tal der Tränen) die Phase der produktiven Anwendungen startet und Technologien Einzug in den Mainstream finden.

 

Im relativ wenig reglementierten Consumer-Bereich durchlaufen Technologien diesen Zyklus schneller als im Industriebereich, wobei digitale und vor allem datenfokussierte Technologien hier die kürzesten Durchlaufzeiten aufweisen. Im Bereich Künstlicher Intelligenz hat die Technologie der sog. „Large Language Models“, in Produktform intelligenter Chatbots auf frei zugänglichen Webseiten, zu einer rekordverdächtigen Technologieadaption im Consumer-Bereich geführt. So wurde die Technologieverbreitung des aktuell dominierenden KI-Chatbots ChatGPT (Chatbot Generative Pre-trained Transformer) zur Erfolgreichsten bis dato, mit 100 Mio. Nutzer:innen in den ersten 2 Monaten. Diese rasante Entwicklung der KI-Technologien im Consumer-Bereich führen zu einer effizienten Bereinigungsphase im Hype Cycle, und es werden Lösungen mit hohem gesellschaftlichem Beitrag, wie Medizin-KI-Chatbots für Personen ohne Zugang zu medizinischen Ressourcen, absehbar.

Im industriellen Umfeld ist vom Hype der aktuellen KI-Tools noch weniger zu vernehmen, und hier durchlaufen KI-Technologien den Hype Cycle mit dem gewohnten „Industrial Pace“, also der vergleichsweise langsameren industriellen Technologieadaption. Hierfür gibt es gute Gründe:

  • Anwendungsfokus: Aktuelle „Out-of-the-box“-KI-Tools fokussieren auf Inhalte, welche im Zusammenhang mit Text, Sprache, Bildern oder Videos stehen – also Inhalte des täglichen Lebens. Getrieben ist dieser Fokus vor allem durch die öffentlich zugänglichen Trainingsdaten, welche für die Entwicklung der Lösungen zur Verfügung stehen. Für spezielle industrielle KI-Tools, wie Planungs-KIs für Anlagenplanungen oder Projektmanagement-KIs zur Abwicklung komplexer Bauprojekte, stehen keine ausreichenden Trainingsdaten dieser Qualität zur Verfügung.
  • Anforderungstiefe: Industrielle KI-Anwendungen, etwa zu Verbesserung der Energieflusssteuerung in Fabriken, erfordern zum Training von KI-Lösungen individuelle Daten der zu optimierenden Energiekreisläufe. Daten dieser Detailtiefe einzelner industrieller Prozesse sind nicht öffentlich verfügbar, und so können KI-Tools, welche nur mit öffentlich zugänglichen Daten des Internets trainiert werden, hier keine Ergebnisse in ausreichender Qualität liefern.
  • Wissenstiefe: Aktuell betreiben gut ausgebildete Fachkräfte industrielle Anlagen und Prozesse. Hier wirkt ein komplexes Zusammenspiel aus Erfahrung, Intuition und Interaktion mit anderen. Dieses Zusammenspiel können aktuelle KI-Lösungen nicht ausreichend gut abbilden. So sind etwa langjährig tätige Instandhaltungsmitarbeiter:innen in der Lage, Ausfälle von Maschinen verblüffend genau abzuschätzen, ohne dafür stets eine rationale Erklärung zu haben. Hier ist aktuell noch ein unverhältnismäßig hoher Aufwand zur Entwicklung von KI-Lösungen erforderlich, um diese Wissenstiefe und letztendlich Effektivität abzubilden.
  • Sicherheitsanforderungen: Industrielle Anlagen stellen unweigerlich einen Gefahrenbereich für Menschen dar, in welchem alle Ursachen und deren Auswirkungen bestmöglich kontrolliert werden müssen. Unternehmen als auch Behörden sind noch nicht bereit, sicherheitsrelevante Entscheidungen an KI-Lösungen auszulagern, da deren Ursache-Wirkungsketten oft nicht validierbar und im Schadensfall rekonstruierbar sind.
  • Daten- und IP-Sicherheit: KI-Lösungen nutzen eingegebene Daten sowie erzeugte Ergebnisse, um das Kernmodell weiter zu trainieren und um zukünftige Ausgaben zu verbessern. Industrieunternehmen hantieren mit meist vertraglich geschützten Daten innerhalb des Unternehmens, auch entlang der umliegenden Wertschöpfungskette. Aktuell ist die rechtliche Abbildung dieser Datenströme schlicht noch zu wenig ausjudiziert und stellt damit für Industrieunternehmen ein nicht kontrollierbares Risiko dar.

Zusammenfassend lassen sich also KI-Technologien des Consumer-Bereiches nicht ohne Weiteres auf den industriellen Kontext umlegen, da Industrieunternehmen speziellere Tätigkeiten durchführen und strengere Anforderungen an Technologien setzen müssen.

Die Hypothese, dass sich KI im industriellen Kontext im Tal der Tränen befindet, kann jedoch aufgrund etwa eines simplen Vergleiches mit dem Consumer-Bereich nicht gestützt werden. So gibt es seit Jahrzehnten KI-Lösungen im Produktivbereich industrieller Unternehmen, welche die Anforderungen der Industrie erfüllen: etwa die Steuerung von fahrerlosen Transportsystemen in Logistikhallen über Schwarmintelligenz, die kamerabasierte Inspektion von Elektronikbauteilen über Visual Computing oder die Optimierung der Reihenfolgeplanung in Produktionsanlagen über Machine Learning. Im Unterschied zum Consumer-Bereich durchliefen diese Lösungen den Hype Cycle jedoch langsamer und kontrollierter, was im Vergleich zu aktuellen KI-Entwicklungen den Anschein einer Schockstarre oder sogar Verweigerung erwecken mag. Dies ist jedoch schlicht auf die erforderliche größere Risikoaversion industrieller Unternehmen zurückzuführen und stellt sicher, dass KI-Lösungen kaufmännisch, technisch und sicherheitstechnisch verträglich sind.

Industrielle KI – was kommt nun?

Selbst führende Vertreter:innen der KI-Szene sind sich einig, dass aktuelle Entwicklungen rund um Large Language Models keine wirkliche KI-Revolution aus technologischer Sicht darstellen. Die eigentliche Revolution findet in den Köpfen aller Menschen statt, da sich nun ein umfassender Diskurs über das Zusammenspiel zwischen Mensch und Maschine entwickelt, wie man diesen schon seit Jahrzehnten führen hätte sollen. Technologisch wird ein Schneeballeffekt erwartet, da die Vielzahl neuer Lösungen im Zusammenspiel mächtige KI-Lösungen ermöglicht, oder deren Funktionen zumindest die Entwicklungen neuartiger KI-Tools beschleunigt.
Es ist daher Industrieunternehmen geraten, sich aktiv mit KI-Tools zu beschäftigen und diese operativ im Unternehmen zu verankern. Denn genau in der täglichen Arbeit kommen die beiden Hype Cycles, jener des Consumer-Bereiches und jener des Industriebereiches, zusammen. Mitarbeiter:innen lernen aktuell viele neue KI-Tools im privaten Bereich kennen und nutzen diese aktiv, was eine große Chance auch für Industrieunternehmen bietet, diesen Schwung für die Arbeit im Unternehmen zu übernehmen. Ob aktiv im Unternehmen getrieben oder nur verfolgt – eine Vielzahl an Tätigkeiten wird, über ein Zusammenspiel aus Automatisierung und KI über die nächsten Jahre, von Maschinen teilweise ersetzt oder umfassend unterstützt. So werden KI-Copilot:innen und KI-Assistenzen in Office-Software-Tools bereits angekündigt, und spätestens dann werden sich alle Jobprofile verändern.

Eine maßgebliche Barriere zur aktiven Einführung von KI-Lösungen stellt die Angst vor Jobverlusten dar. Aber, legt man den zeitlichen Verlauf der Arbeitslosigkeit mit technologischen Veränderungen übereinander zeigt sich, dass die Arbeitslosigkeit des letzten Jahrhunderts in keiner negativen Korrelation mit technologischem Fortschritt steht. Mit Zukunftsaussagen zu Jobverlusten durch Automatisierung und KI sind bereits renommierte Universitäten und Forscher:innen gescheitert. Denn oftmals wird die Veränderungen von Jobprofilen mit dem Wegfall von Jobs gleichgesetzt. Da diese Entwicklungen jedoch gerade im industriellen Bereich verlangsamt Einzug halten, haben Mitarbeiter:innen Zeit, sich an das eigene veränderte Jobprofil anzupassen oder es sogar mitzuformen. Dass etwa Backoffice-Mitarbeiter:innen in wenigen Jahren keine langwierigen Terminkoordinationen mehr durchführen müssen, ist naheliegend. Dieser wegfallende Anteil des Jobprofiles kann zum Beispiel durch Tätigkeiten zur persönlicheren Betreuung neuer Mitarbeiter:innen beim Onboarding aufgefüllt werden – eine Veränderung des Jobprofiles mit hohem Mehrwert für das Unternehmen, ohne Jobverlust.

Als Industrieunternehmen sollte man seinen individuellen KI-Hype Cycle durchlaufen, um sinnvolle Lösungen zu identifizieren und einzuführen. Von einer pauschalen Verurteilung der KI-Technologien, aus welchen Gründen auch immer, sei dringend abgeraten, da die Gefahr besteht, die wirklich nützlichen Tools zu übersehen.

Über den Autor:

Andreas Schumacher arbeitet seit Januar 2022 bei VTU und ist in unserem Unternehmen der Experte für Digitalisierungsstrategien und deren Umsetzung.
Andreas Schumacher verfügt über mehr als 10 Jahre Erfahrung in den Bereichen Unternehmensberatung, Forschung und Innovation. Als CDO bei VTU entwickelt er eine Digitalisierungsstrategie auf Konzernebene und setzt digitale Lösungen auf allen Ebenen um. In der Digitalisierung der Wertschöpfung, das Feld in dem Schuhmacher auch promovierte, liegt seine Expertise und ist die Grundlage seiner Arbeit. Er publiziert seit mehreren Jahren wissenschaftlich im Bereich Industrie 4.0 und berät Unternehmen bei der Umsetzung von industriellen Digitalisierungsstrategien. Seine Arbeit bei VTU umfasst die Bereiche Internal Digital Work, Digital Project Execution und Customer Digitalization. Andreas treibt die Digitalisierung durch die Integration von Operational und Digital Excellence voran und konzentriert sich auf Competence Center Ansätze, um digitale Agenden nachhaltig in die VTU Organisation einzubetten.
Andreas Schumacher bringt die Digitalisierung aus einer menschenzentrierten Perspektive voran, in der Aspekte wie individuelle Arbeitsstile, unterschiedliche Kompetenzniveaus und die Integration in tägliche Routinen eine zentrale Rolle spielen.

Dr. Andreas Schumacher
Chief Digital Officer
VTU Group

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