Gemeinwohl-Ökonomie

von Rita Ehses, Managing Director People, Culture & Organization, Novatec Consulting GmbH

Mehr als nur Nachhaltigkeit: Was die GWÖ-Bilanz über ein Unternehmen verrät

Was ist es, was mittelständische Unternehmen in dieser digitalen und schnelllebigen Zeit am meisten herausfordert? Zwar mögen die Antworten unterschiedlich ausfallen, doch letztlich lässt sich ein Großteil auf die Endlichkeit von Ressourcen zurückführen – in der Natur, bei den Menschen und ihren Kompetenzen. Das spiegelt sich auch zunehmend in den Anforderungen von Arbeitnehmer*innen wider: Work-Life-Balance, Sinnhaftigkeit und der Wunsch, etwas zu einer besseren Welt beizutragen.

Für Unternehmen heißt das nicht nur, flexibler im Hinblick auf Arbeitsort und -zeiten zu werden, sondern vor allem in Sachen Nachhaltigkeit und Menschlichkeit weiterzudenken als bisher. Heute suchen sich Fachkräfte selbst aus, wo und unter welchen Konditionen sie arbeiten wollen. Die Gemeinwohl-Ökonomie ist ein vielversprechender Ansatz, diesem Wandel auf dem Arbeitsmarkt zu begegnen.

Zwar gibt es in Deutschland derzeit immer noch mehr Arbeitslose als offene Stellen, so der Arbeitsmarktmonitor der Bundesagentur für Arbeit[1]. Doch viele Unternehmen können ihre Vakanzen nicht mit dafür ausgebildeten Fachkräften oder den erforderlichen Expert*innen ausgleichen. Der Fachkräftemangel ist ein ernstzunehmendes Problem – und das in nahezu allen Branchen. Zwei von fünf Unternehmen sehen ihre Geschäftstätigkeit durch das Fehlen von Fachkräften bereits behindert, so das KfW-ifo-Fachkräftebarometer im Mai 2022[2]. Besonders mittelständische Unternehmen in Deutschland sind betroffen. Wie also können Unternehmen im sogenannten „War of Talents“ bestehen und die noch vorhandenen Fachkräfte für sich gewinnen?


„Die Gemeinwohl-Bilanz bildet in weiten Teilen die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen ab, die für eine weltweite nachhaltige Entwicklung von „People, Planet, Prosperity, Peace and Partnership“ steht.“


Wer oder was ist die Gemeinwohl-Ökonomie?

Die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) ist eine Reformbewegung aus Österreich, Bayern und Südtirol mit der Idee von einem alternativen Wirtschaftssystem, in dessen Fokus Kooperation, Verantwortung, Nachhaltigkeit, Solidarität und Vertrauen stehen anstelle von Gewinnmaximierung, Ausbeutung und Konkurrenzdenken. Die Förderung des Gemeinwohls ist nicht nur Ziel dieses Ansatzes und des dahinter stehenden Vereins, sondern auch ein „Veränderungshebel“ für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Unternehmen aller Größen können ihre betrieblichen Entscheidungen an gemeinwohl-orientierten Werten ausrichten.

Auf politischer Ebene sorgt die GWÖ für die ideale Basis dafür, verantwortungsvoller mit Mensch und Umwelt umzugehen und gemeinschaftlich für den Erhalt aller Lebewesen und des Planeten Erde Sorge zu tragen. In der Gesellschaft keimt bereits der Samen der Gemeinwohl-Ökonomie: Immer mehr Verbraucher*innen legen Wert auf nachhaltige Produkte, faire Fertigung und transparente Lieferketten. Nicht nur Konzerne, sondern auch mittelständische Unternehmen bekommen also seitens ihrer Kundschaft – vielleicht sogar an anderer Stelle ihrer Supply Chain – zu spüren, dass sich etwas verändern muss.

Mehr als Nachhaltigkeit und Verantwortungsbewusstsein

Nur: Verantwortungsvoller, nachhaltiger und transparenter zu agieren, ist für Unternehmen leichter gesagt als getan. Hier gilt es, sich mit den Konzepten von Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility (CSR) ebenso auseinanderzusetzen wie mit den Ansprüchen der eigenen Stakeholder, zumal unter eine „echte“ Gemeinwohl-Bilanz noch weitere Aspekte fallen. Insgesamt handelt es sich um eine Matrix aus vier Werten: Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit sowie Transparenz und Mitbestimmung. Anhand derer lassen sich die Auswirkungen von Entscheidungen und Maßnahmen auf alle Berührungsgruppen (Stakeholder) bewerten.

Zu diesen gehören Kund*innen, Lieferant*innen und Geschäftspartner*innen ebenso wie die Mitarbeiter*innen, Eigentümer*innen und Finanzpartner*innen – und natürlich das gesellschaftliche Umfeld. Nur wie lassen sich die verschiedenen Anforderungen unter den einen gemeinwohlfördernden Hut bringen?


Werte und Berührungsgruppen, die es im Sinne der GWÖ zu berücksichtigen gilt.
Quelle: https://web.ecogood.org/de/unsere-arbeit/gemeinwohl-bilanz/gemeinwohl-matrix/


Marathon statt Sprint: GWÖ im Unternehmen etablieren

Ehrlicherweise muss man sagen, dass viele mittelständische Unternehmen in der einen oder anderen Kategorie durchaus schon Maßnahmen ergreifen, die auf eine der Säulen der Gemeinwohl-Ökonomie einzahlen. Wer beispielsweise auf ein papierloses Büro setzt, schont nicht nur ökologische Ressourcen, sondern befreit die Mitarbeitenden von dokumentenlastigen Prozessen und spart womöglich sogar Büro-Fläche einschließlich Heizkosten ein, weil keine Aktenschränke mehr nötig sind.

Daher ist der erste Schritt eine Analyse der Ist-Situation: Wo steht ein Unternehmen im Hinblick auf die GWÖ? Der zweite Schritt ist die Zieldefinition: Was soll Standard werden? Hier bieten zahlreiche Bilanz-Beispiele eine Orientierung[3]. Wenn dem Mittelstandsunternehmen klar ist, welches Ziel es zu erreichen gilt, kann es den Weg dahin zeichnen, Meilensteine festlegen und Verantwortlichkeiten regeln. Dies ist kein Sprint, sondern ein Marathon, der die entsprechende Aufmerksamkeit im Unternehmen benötigt.


„Wenn Gehalt und Co. nicht mehr alles sind, spielen tiefergehende Werte im beruflichen Kontext eine zunehmend wichtigere Rolle. Dann wird auch ein Pendler-Ticket für den ÖPNV oder die Jobrad-Initiative zum absoluten Pluspunkt gegenüber einem Dienstwagen-Angebot.“


Lohnend, weil sich Gemeinwohl-Orientierung auszahlt

Hat das Unternehmen seine Ziele oder wichtige Meilensteine erreicht, kann es sich auch der Auditierung durch den GWÖ-Verein (International Federation for the Economy for the Common Good e. V.) unterziehen und eine GWÖ-Bilanz sowie ein Zertifikat für die Gemeinwohl-Orientierung des Unternehmens erhalten. Damit gewinnen die gemeinwohlfördernden Bemühungen innerhalb des Unternehmens an Sichtbarkeit nach außen. Dies ist nicht nur für Kund*innen und Geschäftspartner*innen ein positives Signal, sondern auch für Fachkräfte, die von vielen potenziellen Arbeitgeber*innen umworben werden. Denn wenn Gehalt und Co. nicht mehr alles sind, spielen tiefergehende Werte im beruflichen Kontext eine zunehmend wichtigere Rolle. Dann wird auch ein Pendler-Ticket für den ÖPNV oder die Jobrad-Initiative zum absoluten Pluspunkt gegenüber einem Dienstwagen-Angebot.

Gelebte Gemeinwohl-Ökonomie macht Unternehmen attraktiv und sorgt für ein positives Image. Allein den Audit anzustreben, ist entscheidender als die eigentliche Punktzahl in den jeweiligen Kategorien. Zudem dienen die Erkenntnisse einem aufrichtig gemeinwohlorientierten Unternehmen stets als Ansporn für weitere Verbesserungen. Nicht zuletzt bildet die Gemeinwohl-Bilanz in weiten Teilen die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen ab, die für eine weltweite nachhaltige Entwicklung von „People, Planet, Prosperity, Peace and Partnership“ steht.

Vorteile der GWÖ für mittelständische Unternehmen

  • Positives Firmenimage und attraktive Arbeitgebermarke
  • Zufriedenere, motiviertere Mitarbeiter*innen
  • Höhere Loyalität von Stakeholder*innen
  • Steuerrechtliche Vorteile
  • Vorzüge bei der Vergabe Fördergeldern
Good Practices

Eine Liste bilanzierter Unternehmen und einer Gemeinde finden Sie unter:
https://web.ecogood.org/de/unsere-arbeit/gemeinwohl-bilanz/bilanzbeispiele/

So nicht: Typische Stolpersteine auf dem Weg zur GWÖ im Unternehmen

Wie der Wunsch, einen Marathon zu laufen, beginnt auch die Umstrukturierung zum gemeinwohlfördernden Unternehmen in den Köpfen, der Manager*innen und der Mitarbeitenden. Folglich gilt es die gesamte Belegschaft, alle Leiter*innen und die Geschäftsführung gleichermaßen an Bord zu holen. Dass es dabei unbequem wird und unter Umständen liebgewonnene Privilegien wie dienstliche Flugreisen verloren gehen, ist vielen nicht von vornherein klar. Ebenso wenig, dass es kein Gemeinwohl ohne Transparenz – etwa in den Bereich der Finanzierung oder Gehaltszahlungen – geben kann. Was darüber hinaus häufig übersehen wird: Dieser mentale Wandel benötigt ebenso Zeit wie die Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen.

Dabei ist es hilfreich, kleine Arbeitspakete zu schnüren und auf mehrere Schultern zu verteilen, um somit die zeitlichen und personellen Ressourcen nicht an einer einzelnen Stelle zu binden. Zudem ist die GWÖ kein Einmal-Projekt, wie viele denken, sondern eine permanente Entscheidung mit langfristigen Folgen. Aber auch hier schafft die Staffelung des großen Ziels in kleine Meilensteine die nötige Fokussierung, damit das Unternehmen nicht schon nach den ersten Herausforderungen das Handtuch wirft. Wichtig dabei sind vor allem fortwährende Benefits und Anreize, die das Thema für alle präsent halten.

Praxisblick: Herzensprojekte fördern, Mitarbeitende binden

Nicht nur, dass der IT-Dienstleister Novatec seit Jahren auf Weihnachtsgeschenke und -karten verzichtet und stattdessen von den Mitarbeitenden vorgeschlagene gemeinnützige Organisationen und Projekte, wie zum Beispiel einen Baby-Notarztwagen oder die SWR-Aktion Herzenssache, unterstützt. Anlässlich des 25-jährigen Bestehens hat das Unternehmen zudem die Initiative „Helping Hands – 25 Social Projects“ ins Leben gerufen. Dazu konnten die Mitarbeitenden einen Arbeitstag bezahlt freinehmen, um diese Zeit einem Herzensprojekt ihrer Wahl zu widmen – ganz gleich, ob Hospizarbeit, Ukraine-Hilfe, Obdachlosen-Unterstützung oder Vesperkirche. Damit schafft das Unternehmen seinem Team den Freiraum für soziales Engagement und steigert obendrein die Zufriedenheit und Loyalität der Kolleg*innen. Die Möglichkeit in der Belegschaft untereinander die „freien“ Stunden zu spenden, sorgte intern für mehr Teamspirit und Zusammenhalt als ein konstruiertes Teambuilding.

Fazit: Großes klein beginnen

Der Wandel hat bereits begonnen: Die Ausbeutung von Mensch und Umwelt werden heutzutage immer transparenter und stärker abgelehnt – von der Kundschaft, den Geschäftspartner*innen und von den eigenen Mitarbeitenden. Unternehmen müssen sich über ihre Leistungen hinaus positionieren, um dauerhaft Fachkräfte, Partnerschaften und Kundenbeziehungen zu pflegen sowie neue hinzuzugewinnen.

Die GWÖ als zukunftsweisendes Konzept ist ein möglicher Weg, wenn auch nicht ohne Hürden und Kritik, was ihre Praktikabilität betrifft. Aber in jedem Fall ist sie ein praktischer Startpunkt. Von dem ausgehend sollten mittelständische Unternehmen zunächst klein anfangen und erste Impulse sammeln, bevor sie sich an die erste Trainingseinheit für den GWÖ-Marathon machen.


Novatec Consulting GmbH

Über die Autorin

Rita Ehses, Managing Director bei der Novatec Consulting GmbH

Sie leitet seit 2021 das mit ihr neu entstandene Ressort „People, Culture & Organization“. Neben dem Recruiting und der Personalentwicklung, die zunehmend zum Erfolgsfaktor für den IT-Spezialisten Novatec werden, verantwortet sie auch die kanalübergreifende Mitarbeiterkommunikation.

Darüber hinaus liegt es Rita Ehses besonders am Herzen, dass das Team nach den Prinzipien des gemäß Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) zertifizierten Unternehmens lebt und handelt. Novatec wurde 2021 als erstes deutsches IT-Unternehmen GWÖ-zertifiziert.

www.novatec-gmbh.de


[1] https://arbeitsmarktmonitor.arbeitsagentur.de/faktencheck/fachkraefte/karte/515/7/0/F7/
[2] https://www.kfw.de/PDF/Download-Center/Konzernthemen/Research/PDF-Dokumente-KfW-ifo-Fachkr%C3%A4ftebarometer/KfW-ifo-Fachkraeftebarometer_2022-05.pdf
[3] https://web.ecogood.org/de/unsere-arbeit/gemeinwohl-bilanz/bilanzbeispiele/

Bildquelle: Novatec Consulting