Europa am Scheideweg – Draghi warnt vor Stillstand und fordert Tempo bei Reformen

Ein Jahr nach dem Draghi-Report: eine kritische Zwischenbilanz

Vor rund einem Jahr hat Mario Draghi, ehemaliger EZB-Präsident und italienischer Regierungschef, auf Wunsch der Europäischen Kommission seinen Bericht „The Future of European Competitiveness“ vorgelegt. Ziel war, die EU fit zu machen für die wachsenden globalen Herausforderungen – etwa der Konkurrenz durch die USA und China, den digitalen Wandel, steigende Energiepreise und die Notwendigkeit massiver Investitionen. European Commission+2European Commission+2

Gestern hielt Draghi in Brüssel eine Rede, in der er eine ernüchternde Bilanz zog: Viele seiner Vorschläge sind kaum oder nur zögerlich umgesetzt, das bestehende Wirtschafts- und Wachstumsmodell verliert zunehmend an Wirksamkeit, und die EU riskiert, in wichtigen Zukunftsfeldern weiter den Anschluss zu verlieren. Reuters+2Handelsblatt+2


Zentrale Kritikpunkte

Aus Draghis Rede und aus aktuellen Analysen lassen sich mehrere kritische Schwachstellen herausarbeiten:

Problemfeld Beschreibung
Langsame Umsetzung Nur ein kleiner Prozentsatz der über 300 Empfehlungen aus dem Bericht wurde voll umgesetzt. Viele Maßnahmen sind steckengeblieben. Reuters+2European Commission+2
Hohe Kosten & Energiepreise Europa habe einen Wettbewerbsnachteil bei den Energiepreisen (z. B. Gas), die Stromkosten und Produktionskosten machen vielen Unternehmen zu schaffen. Reuters+2Tagesspiegel+2
Digitalisierung & KI Draghi betont, dass EU bei künstlicher Intelligenz und Technologieentwicklung deutlich hinter den USA und China zurückliege. Nur sehr wenige große KI-„Foundation Models“ seien in Europa entstanden. Reuters+2WirtschaftsWoche+2
Produktionskapazitäten / Industriepolitik Vor allem bei der Mikrochipproduktion und weiteren strategischen Industrien gibt es Nachholbedarf. Dazu kommt, dass Investitionswege oft unklar sind. Tagesspiegel+2Handelsblatt+2
Frustration auf allen Ebenen Bürger*innen und Unternehmen merken, dass Reformversprechen oft langsam bleiben und der Wandel in vielen Regionen bzw. Branchen kaum spürbar ist. Das erzeugt Misstrauen und langsam nachlassende Bereitschaft, auf Wandel zu vertrauen. WirtschaftsWoche+1

Was ist schon passiert? Die Kommission & „Competitiveness Compass“

Die EU-Kommission hat reagiert:

  • Sie hat ein Instrument namens Competitiveness Compass vorgestellt, das viele der Empfehlungen Draghis aufgreift. European Commission+1

  • Einige legislative Vorhaben in Bereichen Innovation, Digitalisierung, saubere Technologien, Marktregulierung sind auf den Weg gebracht. European Commission+1

  • Dennoch: Die Geschwindigkeit und der Umfang sind noch nicht ausreichend, um bestehende Schwächen zeitnah zu beheben. Tagesspiegel+1


Risiko für Wettbewerbsfähigkeit & Souveränität

Draghi warnt, dass mangelnde Umsetzung nicht nur wirtschaftliche Nachteile bringt, sondern mittelfristig auch politische und strategische. Zwei zentrale Aspekte:

  1. Wettbewerbsfähigkeit
    Wenn Europa bei KI, sauberen Technologien, Energieeffizienz nicht aufholt, verliert es Marktanteile, Innovationen gehen ins Ausland, und Unternehmen könnten abwandern.

  2. Souveränität
    Abhängigkeit von ausländischen Technologien, Rohstoffen oder digitaler Infrastruktur kann zur Schwachstelle werden – gerade in Zeiten globaler Instabilität und Handelskonflikte. Draghi sieht hier ein Risiko, dass EU-Staaten durch Inaktivität wichtige Weichenstellung verpassen. Reuters+2Handelsblatt+2


Mögliche Handlungsfelder – Wo muss Tempo gemacht werden?

Auf Basis der aktuellen Lage könnten folgende Schritte entscheidend sein, wenn die EU nicht hinter anderen Wirtschaftsblöcken zurückfallen will:

  • Beschleunigung der Reformen bei Regulierung und Bürokratie: Vor allem im Bereich Datenschutz, KI-Regulierung, Genehmigungsverfahren und Binnenmarktintegration.

  • Stärkere Koordination & gemeinschaftliche Investitionen: In strategischen Bereichen wie KI, Mikrochipproduktion, saubere Technologien, Energieinfrastruktur – bessere Abstimmung auf EU-Ebene, eventuell gemeinsame Schuldtitel zur Finanzierung.

  • Energiepolitik neu denken: Preisdruck mindern, Abhängigkeit reduzieren durch erneuerbare Energien, Energiespeicher etc.

  • Förderung privater Investitionen: Durch klarere Rahmenbedingungen, Anreize, Risikoteilung etc.

  • Innovationsförderung & Bildung: Europa muss beim digitalen Wandel nicht nur konsumieren, sondern mitgestalten – dafür braucht es neben Kapital auch Fachkräfte und flexible Strukturen.


Zwischen Warnung & Chance

Draghis Rede ist eine deutliche Warnung – aber sie ist auch ein Aufruf zum Handeln. Die EU steht an einem Scheideweg: Entweder sie schafft es, Reformen entschlossen und zügig umzusetzen, oder sie riskiert, dass Wachstum und Wohlstand dauerhaft darunter leiden. Für Deutschland und alle Mitgliedsstaaten heißt das: Reformbedarf ist nicht abstrakt, sondern konkret – in Energie, Regulierung, Technologie und Industrie.

Wenn Europa jetzt versagt, dann fallen nicht nur Wettbewerbsfähigkeit und Innovation auf der Strecke – sondern auch die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit. Aber: Wenn die EU den Mut aufbringt, gemeinsam zu handeln, kann sie zu einem echten Gegenspieler der USA und China werden – und zwar nicht bloß als Verbraucher, sondern als Innovationstreiber.

Textlizenz:
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