Durch Lean Core Banking zur Digitalisierung

Dies ist ein Gastbeitrag von Christian Gosch, CIO/COO der Avaloq Sourcing (Europe) AG

Die Migration von einem veralteten Kernbankensystem auf ein neues ist wohl das anspruchsvollste Projekt, das es in der IT von Banken oder Vermögensverwaltern überhaupt gibt. Ein modernes Kernbankensystem einzuführen, ist aber keine rein technische Aufgabe. Gerade vor dem Hintergrund einer umfassenderen Digitalisierung und Automatisierung ist es für Finanzinstitute wesentlich, anlässlich des Migrationsprojekts auch ihre Prozesse und Produkte auf den Prüfstand zu stellen und sie auf ihre Profitabilität und Zukunftsfähigkeit hin abzuklopfen. Der Erfolg einer Kernbankenmigration bemisst sich nicht zuletzt daran, ob es dem Institut gelingt, dadurch die Standardisierung voranzutreiben, die Effizienz zu erhöhen und Kosten zu reduzieren. Die Herausforderungen sind dabei nicht nur technologischer Natur.

Die richtigen Dinge migrieren

Das englische Wortspiel verdeutlicht es: „Doing the project right“ ist unbestreitbar wichtig – aber „Doing the right project“ ist mindestens genauso bedeutsam. Eine Kernbankenmigration ist die perfekte Gelegenheit für ein Finanzinstitut, Ballast abzuwerfen, nicht nur im Hinblick auf alte, unverbundene und ressourcenfressende Legacy-Systeme. Ein wesentlicher Grund für eine Kernbankenmigration liegt darin, Silos aufzulösen und einen ganzheitlichen Blick auf den Kunden, seine Bedürfnisse und seine Vorgänge zu gewinnen sowie einen zentralen Golden Record zu schaffen, der alle relevanten Informationen bündelt. Anlässlich der Migration die Zahl der Schnittstellen und der Drittsysteme deutlich zu verringern, ist ebenso erstrebenswert, wie die Zahl der Datenfelder drastisch zu reduzieren, im Idealfall auf einen Bruchteil der ursprünglichen Anzahl. Es gilt, Altlasten aus den Daten zu entfernen und die bisherige Komplexität deutlich zu verringern.

Zum schlanken Operating Model

Eine Migration ist vor allem dann erfolgreich, wenn sie das Finanzinstitut dem Ideal des Lean Core Banking näherbringt. Denn durch ein schlankes Operating Model wird sich die Bank nicht nur von unprofitablen Produkten, Kundengruppen und Geschäften verabschieden, sie gewinnt auch die Flexibilität, die unverzichtbar ist, um angesichts des hohen Innovationstempos in der digitalisierten Zukunft der Branche zu bestehen. Werden Prozesse standardisiert und automatisiert, hat dies mitunter Auswirkungen auf die gesamte Business Process Operation-Landschaft der Bank. Dazu kann es gehören, dass ein Institut anlässlich seiner Kernbankenmigration beispielsweise auf die Fähigkeit zur eigenen Wertpapierabwicklung verzichtet – die nicht wettbewerbsdifferenzierend ist – und die Abwicklung stattdessen in einem Business Process as a Service-Modell outsourct.

Migration braucht Kommunikation

Die Migration des Kernbankensystems ist immer ein Projekt von strategischer Relevanz. Vor dem Start der eigentlichen Migration steht beispielsweise der Business Case längst fest – das strategische Ziel ist klar. Aber wie bei jeder großen IT-Umstellung spielt auch der menschliche Faktor bei der Migration des Kernbankensystems eine wichtige Rolle. Darum ist es ratsam, die Stakeholder innerhalb des Unternehmens frühzeitig zu involvieren. Es gilt, die Mehrwerte der neuen Anwendung intern und extern zu kommunizieren. Manche Finanzinstitute entscheiden sich sogar, für große IT-Projekte einen Kundenbeirat einzurichten, um die Kundensicht einfließen zu lassen. Auch Risikomanagement- und Compliance-Fragen tauchen bei der Kernbankenmigration auf. Hier sind die internen Risikomanager ebenso zu involvieren wie externe Wirtschaftsprüfer oder Aufsichtsbehörden. Aus Perspektive des Risikomanagements entsteht in Kernbankenprojekten auch die Anforderung nach der Auditierbarkeit des Migrationsprozesses. Eine überprüfbare Dokumentation des Projekts ist also unverzichtbar.

Nur klar definierte Projekte sind erfolgreich

Die Stakeholder auf geeignete Weise einzubeziehen und sie für die strategischen Ziele der Kernbankenmigration zu motivieren, ist das eine – die Zeitpläne einzuhalten, ist das andere. Denn mit der Dauer des Migrationsprojekts wachsen auch die damit verbundenen Risiken, beispielsweise in Gestalt neuer regulatorischer Anforderungen. Wenn eine Kernbankenmigration innerhalb von zwei oder zweieinhalb Jahren abgeschlossen wird, darf man dies durchaus als schnell bezeichnen. Um das Projektrisiko einzugrenzen, sollte sich das Projektteam also bemühen, die Anzahl an akzeptierten Change Requests zu begrenzen. „Jetzt migrieren, später optimieren“ – so lautet ein Grundsatz, den man den Stakeholdern in den Fachbereichen immer wieder ins Bewusstsein rufen sollte. Den Scope des Migrationsprojekts in einem überschaubaren Rahmen zu halten, ist erfolgsentscheidend.

Datenleichen ausmerzen

Die strategische Relevanz, der Business Case und der Scope des Migrationsprojekts sind bereits geklärt, bevor der Auswahlprozess für das neue Kernbankensystem beginnt. Dennoch kann es während der eigentlichen Migration noch wichtige Erkenntnisse und Entscheidungen geben. Oft ist es die intensivere Beschäftigung mit den zu migrierenden Daten, die zu einem neuen Blick auf die eigene Datenlandschaft führt und die Gelegenheit eröffnet, daraus sinnvolle taktische Maßnahmen abzuleiten. Nicht selten führt die Aufgabe der Datenmigration Finanzinstitute beispielsweise dazu, die Komplexität weiter zu reduzieren und sich von Datenleichen zu verabschieden.

Erst die technische, dann die Anwendungsumstellung

Das neue Kernbankensystem live zu schalten und in den Produktivbetrieb zu nehmen, stellt dann die letzte – aber nicht geringste – Herausforderung im eigentlichen Migrationsprojekt dar. Finanzinstitute sind gut beraten, hier einen Go-live im Stil eines Big Bang zu vermeiden. Weniger riskant ist es meist, die technische Umstellung von der Anwendungsumstellung zu trennen und beide beispielsweise an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden vorzunehmen. So besteht im Laufe der ersten Woche noch Gelegenheit, zu prüfen, ob die technologischen Komponenten tatsächlich alle wie gewünscht funktionieren: von Rechenzentren, Fileservern und Firewalls bis hin zu E-Mail-, Telefonie- und Facility-Management-Systemen. Erst darauf folgt am zweiten Wochenende die Umstellung für die Anwender.

Sieben Learnings für den nachhaltigen Migrationserfolg

Die folgenden sieben Punkte beleuchten Aspekte, die Banken und Vermögensverwalter in ihren Kernbankenmigrationsprojekten jedenfalls beachten sollten.

  1. Der Schritt zu einem neuen Kernbankensystem ist im Idealfall der Schritt hin zu einer offenen, flexiblen Systemarchitektur. Es wäre sinnlos, wollte ein Institut sein veraltetes monolithisches System einfach nur durch ein neueres monolithisches System ersetzen. Digitalisierung und Innovationsfähigkeit verlangen eine Orientierung am Open-Banking-Prinzip und an Open-APIs. Grundsätzlich sind alle technologischen Ansätze, die einer Bank mehr Flexibilität verschaffen und die Time-to-Market von Innovationen verkürzen, positiv: Docker, Container, Microservices.
  2. Ihrer Bedeutung nach ist die Migration eines Kernbankensystems Chefsache. Auf beiden Seiten braucht es entsprechend starke Player in den jeweiligen Führungsrollen im Projekt: beim Finanzinstitut ebenso wie beim Anbieter der neuen Kernbankensoftware. Ein gutes Alignment zwischen Vorstand und dem Dienstleister ist für den Migrationserfolg unverzichtbar.
  3. Ebenso ist ein durchdachtes Stakeholder-Management vor, während und nach der Migration Pflicht. Denn auch im Core Banking geht es letztlich um Menschen, um gemeinsame Ziele und eine gemeinsame Sprache.
  4. Auch die Kommunikationsfähigkeit im Projektteam selbst ist erfolgsentscheidend. Kernbankenprojekte funktionieren nur dann, wenn die Vertreter der Fachbereiche und die IT-ler im Umsetzungsteam einander verstehen und bereit sind, aufeinander einzugehen und voneinander zu lernen.
  5. Eine Kernbankenmigration ist immer eine herausfordernde und langwierige Aufgabe. Mit dem geeigneten Verfahrensmodell verliert sie ihren Schrecken. Wenn ein in mehreren iterativen Schritten entwickeltes Kernbankensystem schon früh in den Fachbereichen in den Testbetrieb geht, vermeidet ein Institut unliebsame Überraschungen bei der späteren Migration.
  6. Ein Maß für die neugewonnene Flexibilität ist die Skalierbarkeit des neuen Kernbankensystems. In Zeiten von Software as a Service und Business Process as a Service bedeutet dies, auch auf den geeigneten Ressourcenmix beim Dienstleister zu achten. Eine sinnvolle Mischung aus Near- und Offshoring kann einen wichtigen Beitrag zur Effizienzsteigerung und Kostenreduzierung leisten.
  7. Wenn sich ein Finanzinstitut im Zuge seiner Kernbankenmigration für Outsourcing-Modelle entscheidet, bedeutet das nicht, dass die eigene IT-Kompetenz dadurch verzichtbar würde. Im Gegenteil: Eine geeignete Outsourcing-Steuerung setzt nach wie vor entsprechendes IT-Know-how beim Finanzinstitut voraus. Für einen dauerhaft erfolgreichen Betrieb bleibt es wichtig, dass sich beide Partner – Bank und Dienstleister – auf Augenhöhe begegnen.

Die erfolgreiche Kernbankenmigration sichert Zukunft

Standardisierung, Automatisierung, Digitalisierung und Innovationsfähigkeit: Sie alle sind gute Gründe, sich von monolithischen Altsystemen zu verabschieden und sich für die Migration hin zu einem neuen, offenen und flexiblen Kernbankensystemen zu entscheiden. Die Einführung eines modernen Kernbankensystems ist weit mehr als eine technologische Aufgabe: Sie bedeutet eine strategische Weichenstellung. Die Kernbankenmigration ist für ein Finanzinstitut immer auch eine Frage seiner Produkte, seiner Prozesse und seiner operativen Effizienz. Sie ist eine Frage der Zukunftsfähigkeit.

Über den Autor

Christian Gosch ist als Vorstandsmitglied der Avaloq Sourcing (Europe) AG verantwortlich für IT und Operations. Er stieß im Jahr 2017 als Senior Global Programme Manager zu Avaloq, einem Anbieter von digitalen Banking-Lösungen, Kernbankensoftware und Vermögensverwaltungstechnologie. Als renommierter Bank- und IT-Manager hatte Christian Gosch vor seiner Zeit bei Avaloq bereits verschiedene C-Level-Funktionen inne, zuletzt als Head of Organization and IT/CIO bei der Erste Group Bank AG in Österreich und in Osteuropa. Christian Gosch hat einen Abschluss in Wirtschaftsinformatik von der Universität Wien.

Weitere Informationen unter
www.avaloq.com