Digitalisierung ja, aber richtig

von Andreas Gladis

Der Maschinenbau leidet unter den Folgen von COVID-19, doch die wahren Ursachen für die Probleme der Branche liegen tiefer. Die jüngste Studie des Aachener Optimierungsspezialisten INFORM verrät die Details. 

Wenn es eine Vorzeigebranche in Deutschland gibt, dann ist es der Maschinen- und Anlagenbau: Er ist der größte industrielle Arbeitgeber, exportstark und glänzt durch seine unvergleichliche Innovationskraft. Die Branche fertigt komplexe Produkte mit höchster Präzision. Tausende Arbeitsschritte sind dafür nötig, hängen von reibungslosen Lieferketten und dem empfindlichen Zusammenspiel von Rohstofflieferungen, Bauteileverfügbarkeit, Maschinenkapazitäten und qualifizierten Mitarbeitern ab. Die kleinste Störung hat das Potenzial, eine Kettenreaktion auszulösen und den gesamten Fertigungsprozess zu gefährden. Bedroht sind dann auch die verbindlichen Liefertermine, die anspruchsvolle Kunden nicht selten unter Androhung empfindlicher Konventionalstrafen diktieren. Diesen Balanceakt zu beherrschen war schon immer eine schweißtreibende Mammutaufgabe. Dann kam Corona.

Der Infektionsschutz verschärft den Auftragsrückgang

Schon 2019 hatte die Branche nach zehn Jahren ungebrochenen Wachstums einen Wendepunkt erfahren und einen Auftragsrückgang von sieben Prozent verkraften müssen, maßgeblich bedingt durch den allgemeinen konjunkturellen Abschwung, den Handelskonflikt zwischen den USA und China und den EU-Austritt Großbritanniens. Der zusätzliche Faktor Infektionsschutz, der 2020 hinzugekommen ist und die operative Planung jedes einzelnen Unternehmens über den Haufen geworfen hat, hat die Sachlage noch erheblich komplizierter und die Stimmung in der Branche trüber gemacht.

Ein genaues Stimmungsbild zur wirtschaftlichen Situation des Maschinen- und Anlagenbaus wollte INFORM im Rahmen einer Studie in Erfahrung bringen. Schnell war klar, dass die Digitalisierung der IT dabei eine essenzielle Rolle spielen würde.

Unternehmen bekämpfen Symptome statt Ursachen

Tatsächlich haben die Ergebnisse der Studie Trendreport 2020 für den Maschinen- und Anlagenbau: Eine zukunftssichere Branche in Deutschland? (1) die Vermutung bestätigt: Bei über der Hälfte (57%) aller Unternehmen ist Digitalisierung das Thema, das die wirtschaftliche Situation beherrscht. Erfreulich ist, dass sich die befragten Unternehmen insgesamt sehr optimistisch über die Potentiale der digitalen Transformation gezeigt haben – wie die Verbesserung der Produktionsplanung (92%) und Termintreue (86%), die Reduzierung von Durchlaufzeiten (79%), die Vermeidung von Materialengpässen (68%) oder die Kosteneinsparungsmöglichkeiten insgesamt (79%). Ja, diese Potentiale lassen sich nutzen, um den aktuellen Schwierigkeiten gegenzusteuern.

Allerdings ist immer wieder der Eindruck entstanden, dass bei der Digitalisierung an der falschen Stelle angesetzt wird: Unternehmen bekämpfen oft Symptome statt Ursachen. Beispielsweise tragen viele Technologien aus dem Bereich Business Intelligence zwar dazu bei, das in den Unternehmensdaten gesammelte Wissen übersichtlich zu visualisieren und zusammenzufassen. Es bleibt aber die Aufgabe der Verantwortlichen, aus diesem Wissen einen Mehrwert für ihren Betrieb zu generieren. Warum staut sich vor einer bestimmten Maschine immer wieder Material und verzögert die Produktion? Konkrete Handlungsempfehlungen, was zur Lösung dieses Problems zu tun ist, liefern die meisten Systeme nicht. Die Folge ist, dass 62% der Befragten mit den Prozessen ihrer Produktionsplanung nicht zufrieden sind.

Algorithmen verzögern absichtlich Aufträge – und Unternehmen profitieren

Also alle Abläufe schneller und schlanker gestalten? Das ist ein Anfang, löst aber das Problem nicht: Zu komplex und vielschichtig ist eine ganzheitliche Produktionsplanung, die tausende, manchmal konkurrierende Prozesse und hunderte Ressourcen abstimmen muss. Dafür ist ein System notwendig, das die Gesamtheit dieser Prozesse einbezieht und alle Arbeitsgänge und Aufträge in der richtigen Reihenfolge ordnet; nur dann ist ein Unternehmen in der Lage, die Gesamtplanung zu optimieren und angemessen auf jede Situation zu reagieren.

Die Fertigungsreihenfolge ist also entscheidend, und nur mathematische Algorithmen sind in der Lage, sie zu berechnen. In der Coronakrise müssen sie zum Beispiel mit knappen Materialien und Mitarbeitern umgehen und sie Aufträgen zuordnen. Algorithmen könnten dann vorschlagen, einzelne Aufträge absichtlich zu verzögern. Das widerspricht völlig unserer Intuition, die Berechnung ergibt aber, dass ein Unternehmen mit diesem Schritt insgesamt mehr Aufträge termingerecht abschließen kann als mit der linearen Abarbeitung der anstehenden Bestellungen.


Gegenüber einer isolierten lokalen Steuerung verringert eine bereichsübergreifende Steuerung die Durchlaufzeiten und verbessert damit die Termintreue.
(Quelle: INFORM GmbH)

Intuitiv würde man als Mensch mit den beiden priorisierten Aufträgen beginnen (A und B). Damit kommt man aber zu dem schlechten Ergebnis. Nur ein Auftrag kommt pünktlich.
Der Algorithmus würde kontraintuitiv mit A und C starten und damit ein insgesamt besseres Ergebnis erreichen.

Möglich sind solche Erkenntnisse nur, weil die Algorithmen in der Lage sind, sämtliche Aspekte und Abhängigkeiten der Prozesskette und die Gesamtheit aller Kundenaufträge zu erfassen und sie bei Berechnungen mit einbeziehen. So etwas ist allein mit Excel natürlich nicht zu schaffen. Warum Excel? Weil in vielen Abteilungen außer Excel so gut wie keine Werkzeuge für die Fertigungsplanung zur Verfügung stehen, wie die Ergebnisse der Studie zeigen. Wenn Unternehmen über Digitalisierung nachdenken, müssen sie auch hier ansetzen.

Raus aus der Krise

Jetzt ist jedenfalls die richtige Zeit zum Lernen. Unternehmen sollten analysieren, wo in jüngster Zeit Schwierigkeiten aufgetreten sind: Sind Lieferketten in der Corona-Krise kollabiert? Arbeitet das Risikomanagement effektiv? Ist es sinnvoll, den Eigenfertigungsanteil zu erhöhen? Lassen sich die komplexen Prozesse mit den vorhandenen Ressourcen bewerkstelligen? Auch diese Überlegungen sind wichtig, um sich in Zukunft resilienter aufzustellen.

Wenn sich der traditionsreiche Maschinen- und Anlagenbau bei all dem internationalen, konjunkturellen und operativen Druck neu erfindet, bleibt er in Deutschland eine zukunftssichere Branche. Er wird sich dafür aber deutlich mehr als in der Vergangenheit bewegen müssen, um seine vollen Potenziale auszuschöpfen. Einer der Königswege heißt Digitalisierung.

Die wichtigsten Ergebnisse der INFORM-Studie

  1. Zukunftssicherheit in Gefahr? Bereits vor der Corona-Krise sahen sich über die Hälfte der befragten Unternehmen externem Druck ausgesetzt: wegen politischer Faktoren wie dem Handelsstreit zwischen China und den USA oder dem Brexit (62%), internationalem Wettbewerb (57%) oder der Gefahr einer Rezession (52%).
  2. Verbesserungsbedarf: Die digitale Transformation beherrscht die wirtschaftliche Situation in mehr als der Hälfte der befragten Unternehmen (57%). Es folgen Prozessoptimierung und Automatisierung (53%) sowie Termintreue und Liefergeschwindigkeit (50%).
  3. Digitale Transformation: Sie ist in den meisten Unternehmen (97%) in vollem Gange. Zwar sieht sich noch kein Unternehmen bereits am Ziel angekommen. Doch die Stimmung ist optimistisch: Fast drei Viertel der Befragten (71%) schätzen die Erfolgsaussichten ihrer Digitalisierungsmaßnahmen als gut ein. Dennoch gelten fehlender Wille zur Digitalisierung (57%) und Schwierigkeiten bei der Implementierung neuer Prozesse (53%) zu den größten Hürden einer erfolgreichen Umsetzung.
  4. Mehrwerte: Die Befragten sehen die Digitalisierung einheitlich optimistisch für verschiedene Bereiche. Ein Großteil der Unternehmen sieht hohes oder sehr hohes Verbesserungspotenzial für das Produktionsmanagement (95%), die Produktionsplanung (92%), die Termintreue (86%), Kosteneinsparungen sowie eine Reduzierung der Durchlaufzeiten (jeweils 79%).
  5. Stellhebel Produktionsplanung: Fast zwei Drittel der Befragten (62%) sind mit dem Ablauf und der Organisation ihrer Produktionsplanung unzufrieden. Mangelnde Termintreue ist dabei das häufigste Problem. Essenzielle Hilfen wie ein Fertigungsleitstand oder ein Feinplanungssystem fehlen den meisten Unternehmen (65% beziehungsweise 79%).
  6. Technologietrends: Passend zum Bedarf an Prozessoptimierung misst die Mehrheit der Befragten (62%) Big Data und Datenanalyse großen Einfluss auf den zukünftigen unternehmerischen Erfolg bei. Es folgen die „Smart Factory“ (55%), Künstliche Intelligenz und der Digitale Zwilling (jeweils 48%).

(1) Zur Durchführung der vorliegenden Untersuchung wurden 120 Fach- und Führungskräfte aus deutschen Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus von Dezember 2019 bis März 2020 befragt. Die Teilnehmer wurden mittels einer systematischen Stichprobenziehung ermittelt. Die Befragung erfolgte anonymisiert von Ende Dezember 2019 bis Anfang März 2020. 40% der Befragten arbeiten in Betrieben mit mehr als 1.000 Mitarbeitern. 27% der Unternehmen beschäftigen 250 bis 1.000 Mitarbeiter und 33% bis zu 250 Mitarbeiter. Die vollständige Studie steht hier zur Verfügung.

Über den Autor

Andreas Gladis ist Geschäftsbereichsleiter Produktion
beim Aachener Optimierungsspezialisten INFORM

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