Digitale Transformation und Projektmanagement

Gerhard Gudergan, stellvertretender Geschäftsführer des FIR e. V. an der RWTH Aachen und Bereichsleiter Business Transformation, stellt im Interview mit der TREND-REPORT-Redaktion den aktuellen Stand seiner Forschung im Bereich Projektmanagement dar.

Herr Gudergan, welchen Forschungsbereichen widmen Sie sich?
Wir beschäftigen uns unter anderem mit der Frage, nach welchen Prinzipien Unternehmen den Prozess der Veränderung in der Digitalen Transformation gestalten müssen. Darüber hinaus erforschen wir, wie sich Unternehmen in Zeiten digitaler Ökonomie sowie plattformbasierter Geschäftsmodelle und Ökosysteme positionieren. Unsere zentrale Hypothese lautet, dass digitale Technologien, wie die der Datenanalytik oder die Vernetzung von Individuen und Dingen im Rahmen einer strategischen Neuausrichtung, nicht nur zu neuen Dienstleistungen und Geschäftsmodellen führen, sondern fundamentale Neugestaltungen in den Strukturen, Prozessen und Verhaltensmustern der Unternehmen ermöglichen. Dieses Verständnis betont eine völlige Neudefinition der  Geschäftstätigkeiten und grenzt sich von Ansätzen der Produktivitätssteigerung existierender Prozesse und Systeme ab, ohne deren enorme Bedeutung in Frage zu stellen.

Welche Rolle nimmt das Projektmanagement in Zeiten der digitalen Transformation ein?
Ein modernes Unternehmen kann man als Bündel unterschiedlichster Projekte begreifen. Dabei gibt es sicherlich die verschiedensten Typen. Die folgenden vier erachten wir als besonders relevant vor dem Hintergrund der Diskussion um die Digitale Transformation. Einige Projekte beschäftigen sich damit, neue Ideen zu entwickeln. Dazu bedarf es beispielsweise des Managements von Hackathons. Andere Projekte befassen sich mit dem Aufbau von Partnerschaften im Ecosystem, der Ausgründung von digitalen Einheiten oder dem Zukauf von Unternehmen. Diese Projekte sind wichtig, um sich die in der digitalen Ökonomie bietenden, strategischen Optionen wirkungsvoll zu sichern. Eine dritte Gruppe von Projekten hat zum Ziel, den Markt für ein neues Produkt vorzubereiten sowie eine Vertriebsstrategie zu entwickeln und umzusetzen. In einer vierten Gruppe müssen dann stabil laufende Systeme für die Produktion, die Supply Chain oder für Prozesse an der Kundenschnittstelle entwickelt werden. Das Projektmanagement befasst sich hierbei dann auch damit, dieses gesamte Portfolio von Projekten zu orchestrieren. Bei der Betrachtung dieses Portfolios wird schnell klar, dass es nicht „die eine“ digitale Unternehmenskultur und „den einen“ Führungsstil gibt. Man benötigt genau sosehr agile Strukturen mit sehr inspirierenden Führungspersönlichkeiten für die Projekte, in denen es um Invention und Experimente geht, wie man ausgesprochen markt- und zielorientierte Kulturmerkmale benötigt, um eine gute Idee auch zum kommerziell erfolgreichen Produkt zu machen. Ebenso dazu gehört auch eine durch Präzision und Prozessqualität dominierte Kultur in den Teams, die ein stabiles Produktionssystem aufbauen und weiterentwickeln.

Welchen Stellenwert nimmt das Projektmanagement bei Veränderungsprozessen ein?
Einen definitiv sehr hohen, und zwar nicht nur, weil jede Transformation ein höchst anspruchsvolles Veränderungsprogramm darstellt, unter dem dann zahlreiche Projekte gebündelt werden müssen. Und auch nicht nur, weil wir es, wie vorhergehend dargestellt, mit einer Vielzahl unterschiedlich gearteter Projekte zu tun haben, die es zu orchestrieren gilt. Das Projektmanagement trägt signifikant dazu bei, dass zahlreiche Initiativen im Unternehmen im Zuge der Diskussion um die Digitalisierung nicht nur einfach angestoßen werden und dann leider manchmal wieder verpuffen, sondern dass Initiativen auch zu einem definierten Ergebnis führen und nach einer Reflektion auch weiterverfolgt werden können. Das Projektmanagement als Methode gehört schon immer zum Handwerk eines Unternehmens und kann durch agile Methoden ergänzt und neu definiert werden. Es wird damit zum Botschafter für neue Formen der Arbeit und Organisation.

Der Wertewandel in Arbeitswelt und Gesellschaft erfordert auch einen Wandel in den Organisationsstrukturen. Mit welchen Problemen im Kontext der „Organisationsgestaltung“ beschäftigt sich Ihre Forschung?
Im Bereich der Gestaltung zukünftiger Organisationsformen stehen folgende Fragen im Mittelpunkt: Wie können sich Unternehmen gemäß dem Konzept der Plattformökonomie dem Ideal der Null-Grenzkosten nähern können? Wie können Kontrollpunkte über die Entstehung von Informationen belegt werden? Über welche Unternehmensformen wird in Zukunft der Zugang zu Ressourcen und Daten erfolgen oder wie werden diese verteilt?
Im Zuge der Gestaltung zukünftiger Arbeitsformen und -systeme stehen Fragen nach der Bemessung des Arbeitsergebnisses oder der Koordination selbstorganisierter Arbeit im Fokus, wenn Mitarbeiter in zukünftigen Unternehmensformen in flexiblen und multiplen Arbeitsverhältnissen anstelle einer Festanstellung arbeiten. Hier ergeben sich übrigens die wirklich neuen Herausforderungen für das Projektmanagement. Die Zukunft der Arbeitsorganisation wird geprägt sein von grenzenloser Mobilität und der Substitution von Routinearbeit durch automatisierte Systeme. Die Mobilität der Arbeitsleistung wird auch neue Herausforderungen an die Führung und die Gestaltung kultureller Rahmenbedingungen stellen. Verfahren der künstlichen Intelligenz werden in ihrer Bedeutung für Arbeits- und Entscheidungsprozesse noch weiter zunehmen. Arbeit wird damit immer mehr zur Entscheidungsarbeit, deren Aufgabe darin besteht, die von Systemen vorgeschlagenen Alternativen zu bewerten.

Gerhard Gudergan: „Eine echte Partizipation bei der Auswahl des methodischen Ansatzes und der Ausgestaltung der neuen Prozesse ist für den Erfolg mindestens so wichtig wie eine gute Schulung im Umgang mit einer neuen Methode.“

Welche organisatorischen Faktoren können zur Steigerung der Akzeptanz von PM-Systemen beitragen?
So, wie bereits erörtert, gibt es nicht „das eine“ typische Projekt und damit auch nicht „das eine“ typische Projektmanagement. Jeder der eben schon exemplarisch dargestellten vier Typen von Projekten und Kulturen sollte auch durch spezifisch angepasste Methoden des Projektmanagements unterstützt werden. In der Passung zur Arbeitsaufgabe liegt ein wesentlicher Faktor für Akzeptanz und unserer Meinung nach bedeutet dies, dass wir konsequenterweise eine gewisse Vielfalt von Methoden und Tools benötigen. Je nachdem, ob man in der Ideenphase, in den frühen Phasen der Produktentwicklung oder auch bei inkrementellen Verbesserungen in Sprints arbeitet oder ob man im Zuge der Umsetzung einer Go-to-Market-Strategie verschiedene Kommunikationskampagnen aufeinander abstimmen muss und sich hierbei lieber auf eine klassische Planung verlässt, ist der Methodeneinsatz unterschiedlich.
Aus unseren Erfahrungen wissen wir, dass es sich auch bei der Einführung eines Projektmanagements und den dazu gehörenden Tools um eine Veränderung im Sinne einer Transformation handelt. Es werden ja schließlich gleichzeitig sowohl Veränderungen im Prozess als auch eine neue Software eingeführt. Eine echte Partizipation bei der Auswahl des methodischen Ansatzes und der Ausgestaltung der neuen Prozesse ist für den Erfolg mindestens so wichtig wie eine gute Schulung im Umgang mit einer neuen Methode.

Was ist aus Herstellersicht zu leisten, um die Softwareakzeptanz zu erhöhen?
Aus unserem privaten Alltag sind wir alle gewohnt, dass Software als APP einfach nutzbar und intuitiv bedienbar sein kann. Diesen Anspruch nehmen wir alle zunehmend mit in den Arbeitsalltag. Für viele Aufgabenbereiche werden wir deshalb mit kleinen und für die jeweilige Situation sinnvoll zugeschnittenen APPs mehr Akzeptanz finden als mit den großen und mächtigen Lösungen. Das soll nicht bedeuten, dass wir nicht auch weiterhin sehr umfangreiche Softwarelösungen für die Bewältigung komplexer Aufgaben benötigen. Aber der Trend geht eigentlich in der gesamten Softwareindustrie eher in die Richtung der auf spezifische Aufgaben zugeschnittenen APPs, die als Cloud-Lösung angeboten werden und damit zusätzlich auch den Administrationsaufwand reduzieren.

Gerade für KMU ist die digitale Transformation eine Herausforderung. Wie unterstützt Ihre Forschung KMU?
Wir gehen stets von der Frage aus, was in der jeweiligen Konjunktur- und Wirtschaftslage für KMU wirklich ein Problem darstellt. Von da aus entwickeln wir Methoden und Lösungen. KMU werden dabei immer in die Entwicklung einbezogen. Für sie ist es in der digitalen Transformation sehr wichtig, das mögliche Ergebnis eines Digitalisierungsprojekts schon früh erkennen zu können. Man muss mit den vorhandenen Ressourcenebenen besonders gewissenhaft agieren. Bewährt hat sich hier der schnelle Aufbau von digitalen Prototypen, anhand derer sich dann die Möglichkeiten der Digitalisierung sehr gut und glaubwürdig darstellen lassen. In einem KMU kann das der wesentliche Impuls für die Einleitung einer Digitalisierungsstrategie sein. Über diesen Ansatz haben wir erst vor Kurzem die Digitalisierungsstrategie eines der ältesten deutschen Industrieunternehmen einleiten können, indem wir in unseren Laboren mit minimalstem Einsatz eine bis dahin völlig analoge Produktionsmaschine mit Sensorik ausgestattet haben und über Cloud-Dienste ein einfaches aber wirkungsvolles Remote-Monitoring mit einer APP ermöglichten.
Als Ergebnis unserer Arbeit liegt übrigens im Allgemeinen nicht nur ein Prototyp, ein Managementhandbuch oder eine Software vor, sondern vielfach auch ein Schulungsangebot. Für KMU bieten wir darüber hinaus auch eine Vielzahl von Arbeitskreisen und Foren, in denen wir unsere Ergebnisse vorstellen und den Austausch untereinander fördern. Mit einfach einsetzbaren Assessments und Audits unterstützen wir KMU dabei, Schwerpunkte zu setzen. Bei der Entwicklung von Lösungen greifen wir natürlich oft auf etablierte Verfahren zurück, bemühen uns aber auch immer um Einfachheit und pragmatische Lösungen.

Welche Managementkultur wird in der Transformation dafür benötigt?
Um die Balance zwischen Neuem und Bestehendem, zwischen Invention und Skalierung, zwischen Ad-Hoc und Stabilität zu meistern, brauchen wir Diversität in den Unternehmen. Wie beschrieben gibt es unserer Meinung nach nicht „die eine“ digitale Kultur und wenn es sie gibt, ist es die Kultur der Vielfalt. Inspirierende, visionäre Führungspersönlichkeiten werden genauso benötigt wie Führungskräfte, die eine stringente Umsetzung durchsetzen können. Da solche Fähigkeiten nicht unbedingt immer in einer Person zugleich vorhanden sind und auch nicht sein müssen, benötigen wir ein Mehr an Aufteilung. Erst kürzlich konnten wir auf Basis unserer internationalen Studie zur Digitalen Transformation mit über 550 Teilnehmern klar aufzeigen, dass das technologische Know-how der Führungskräfte und insbesondere des CEOs einer der wesentlichen Erfolgsfaktoren ist.

Über den Autor:

Dr. Gerhard Gudergan studierte Produktionstechnik an der RWTH Aachen und promovierte anschließend zum Dr.-Ing. mit den Schwerpunkten Organisation und Innovation. Seit 2000 ist er am FIR an der RWTH Aachen tätig, seit 2005 als Leiter des Bereichs Dienstleistungsmanagement und seit 2013 als Leiter des Bereichs Business Transformation. Gudergan ist heute stellvertretender Geschäftsführer des FIR e. V. an der RWTH Aachen, Bereichsleiter Business Transformation und Geschäftsführer der Metropolitan Cities MC GmbH. Seit 2020 ist er außerdem Präsident der International Society of Service Innovation Professionals ISSIP.