Die Post-Corona-Stadt
Eike Becker erläutert in seinem Gastbeitrag, warum die „Post Corona Stadt“ unterschiedlichen Anforderungen genügen muss und wie der Umbau gelingen kann.
Vor ein paar Jahren noch wirkte die benötigte Neu- und Umgestaltung unserer Städte – vor dem Hintergrund der drohenden Klimakatastrophe und voranschreitenden Digitalisierung – für viele wie ferne Zukunftsmusik. Doch die vergangenen anderthalb Pandemiejahre haben das auf einen Schlag geändert: Corona wirkte wie ein Katalysator, der plötzlich zum Handeln zwang, bereits bestehende Entwicklungen beschleunigte sowie eine Vielzahl neuer hervorbrachte. Die Pandemie hat uns schonungslos gezeigt, an wie vielen Stellen unsere Städte neu gedacht werden muss. Auch, damit unsere Städte künftige, noch unbekannte Krisen überdauern können. Es stellt sich also die Frage, wie eine solche Architektur aussehen muss, damit sie zu einer nachhaltigen, digitalen, menschlichen und widerstandsfähigen Stadt beitragen kann.
Nutzungsneutrale Flächen müssen Standard werden
Im vergangenen Jahr hat sich das Bild unserer Städte maßgeblich und für alle spürbar verändert. Neben Pop-up-Radwegen fallen dem gelegentlichen Besucher mittlerweile immer häufiger auch leerstehende Büro-, Hotel- und Einzelhandelsflächen ins Auge. Diese sorgen vielerorts für Sorgenfalten, zeugen sie doch in vielen Fällen von einem grundlegenden Fehler der vergangenen Jahre: Gebäude wurden nur für eine spezifische Nutzungsart geplant und entworfen. Doch ein Gebäude, das nicht umgenutzt werden kann – beispielsweise von Hotel zu Wohnen oder zu Büro – ist jetzt und in Zukunft schlicht nicht flexibel genug. Das hat die Pandemie deutlich gezeigt. Ein Plan B und C sollte deshalb fortan von Anfang an mitgedacht werden. Denn nutzungsneutrale Tragwerke und Geschosshöhen machen Gebäude krisenfester und dauerhafter. Das bestätigt auch ein Blick zurück in die Vergangenheit: Die robusten Gewerbehöfe des 19. Jahrhunderts sind flexible, umnutzungsfähige Gebäude. Heute werden viele von ihren weiträumigen Etagen mit Begeisterung als Loftbüros, zur Produktion oder zum Wohnen genutzt. Gebäude dürfen also nicht mehr nur für einen Zeitraum von 20 Jahren geplant werden – wir brauchen Projekte, Konzepte und Strukturen, die auch in 200 Jahren noch nutzbar sind.
Mehr digitale, statt mechanische Gebäudetechnik
Dazu beitragen kann auch eine weitestgehend digitale Gebäudetechnik. Ohnehin können viele häusliche Alltags-Vorgänge bereits jetzt über Smartphones und Co. vom Nutzer selbst gesteuert werden. Mit digitalen Gebäudezwillingen können wir schon heute bspw. den Energie-Bedarf und -Verbrauch von Gebäuden umweltschonend optimieren. Die pandemie-bedingte Beschleunigung der Digitalisierung – sei es beim Einkaufen, der Arbeit oder beim Arzt – hat die Akzeptanz von digitaler Vernetzung nochmals schlagartig erhöht. Das bedeutet auch, dass wir in Zukunft statt auf klassische, mechanische Gebäudetechnik – die schnell altert und hohe Wartungskosten verursacht –, auf eine sich ständig weiterentwickelnde Hardware/Software setzen sollten. Dadurch eröffnet sich die Chance, nicht nur einzelne Gebäude, sondern auch ganze Stadtteile digital miteinander zu vernetzen und energetisch zu optimieren.
Auch in der Vernetzung von ländlichen und urbanen Räumen liegt ein elementarer Bestandteil unserer zukünftigen Stadtplanung. Sie ist der Grundbaustein u. a. einer nachhaltigen Mobilität oder der Möglichkeit des dezentralen Arbeitens – und hat so das Potenzial, auch den großen (städtischen) Problemen unserer Zeit, wie bspw. dem Wohnraummangel, entgegenzuwirken. Denn egal ob Smart-Home, Smart-Mobility oder Smart-Government – Digitalisierung und Vernetzung endet nicht an der eigenen Ortsgrenze. Stadtentwicklung ist heute weit mehr als kurzfristig Wohn- und Arbeitsraum zu schaffen. Es geht darum, innovative, digitale und sozial vernetzte, nachhaltige Lebensräume zu schaffen, die auch für die folgenden Generationen noch attraktiv sind und bedarfsgerecht weiterentwickelt werden können.
Holz ist das Baumaterial der Zukunft
Doch die innovative, nachhaltige Stadt der Zukunft beginnt nicht bei der besten digitalen Vernetzung oder bei sorgfältig ausgeklügelten Mobilitätskonzepten. Am Anfang steht die Frage nach den eingesetzten Baumaterialien. Aktuell ist die Bauindustrie für unglaubliche 40 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Dazu kommt, dass ein Großteil der verwendeten Ressourcen weder recycelt noch nach Abriss wiederverwendet werden. Dabei könnte es ganz anders laufen: Mit Holz gibt es eine natürliche, nachhaltige und auch nachwachsende Ressource, die eine zukunftsweisende Lösung für all diese Probleme bietet. Nicht nur ist eine hochwertige Wiederverwendung problemlos möglich, auch die enormen Treibhausgasemissionen des Bausektors können dank der einzigartigen Fähigkeit der Bäume, das CO2 der Atmosphäre in Holz zu verwandeln, merklich gesenkt und für hunderte von Jahren in der Bausubstanz eingelagert werden.
Trotzdem ist ein Gebäude in Holzhybridbauweise noch 5 Prozent teurer als eines aus Stahlbeton. Denn noch nicht materialgerechte Brandschutzbestimmungen, mangelndes Wissen, nicht ausreichende Kapazitäten sowie vehementes Lobbying der konventionellen Betonindustrie verzögern aktuell eine massenhafte Verwendung. Was in der Diskussion jedoch häufig untergeht ist, dass es nicht darum geht, die bekannten Baumaterialien sofort und komplett zu ersetzen. Eine Hybridbauweise, bei der man neben Holz auch reduziert auf Stahl und Beton zurückgreift, bietet zurzeit eine pragmatische und sofort umsetzbare Lösung. Aber die Wende zeichnet sich ab: In Wien, Hamburg, München, Wolfsburg und Amsterdam laufen ernst zu nehmende Planungen für große Holzhybrid-Bauten und in der hessischen Wirtschaftsmetropole Frankfurt realisieren wir gerade das erste Holzhybrid-Haus der Stadt nach Hochhausverordnung. Noch handelt es sich hierbei zwar um einzelne Projekte, doch sobald die ersten zehn Vorhaben gebaut sind, ist mit einer Systematisierung und Beschleunigung der Genehmigungsverfahren zu rechnen.
Stadtplanung muss gesellschaftlichen Visionen folgen
Der Bau von attraktiven, zukunftsweisenden Städten mit lebendigen Quartieren ist gewiss eine anspruchsvolle Aufgabe. Stadtplaner und Entwickler von Quartieren müssen sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sein – denn Stadtplanung und Städtebau haben gesellschaftlichen Visionen zu folgen. Und das bedeutet, für die großen Themen unserer Zeit – von der Digitalisierung über die Klimaneutralität bis hin zur sozialen Stadt – neue Wege zu gehen. Damit der herausragend gute Lebensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen, eine sich immer wieder erneuernde Modellstadt für das gute Zusammenleben aller, Wirklichkeit wird.
Über Eike Becker
Eike Becker, geboren 1962 in Osterholz-Scharmbeck, hat in Aachen, Paris und Stuttgart studiert und ist heute ein vielfach ausgezeichneter Architekt und Designer. 1999 gründete er zusammen mit Helge Schmidt in Berlin Eike Becker_Architekten, eines der renommiertesten Architekturbüros Deutschlands. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt den urbaner Zentren mit ihren Menschen, öffentlichen Räumen, Hochhäusern, Büros und Wohnprojekten. Zu ihren gestalterischen Leistungen zählen Stadtplanungen, Neubauprojekte, Konversionen, Innenarchitektur und Produktdesign. Weitere Informationen zu den Projekten von Eike Becker_Architekten sind auf der Website www.eikebeckerarchitekten.com abrufbar.