Work-Life-Balance: Arbeitest du noch oder lebst Du schon?
Autor: Dr. Cornelia Reindl
Unsere heutige Arbeitswelt wird zunehmend flexibler und dynamischer. In immer mehr Berufsfeldern herrscht ein hohes Veränderungs-, Reaktions- und Arbeitstempo. Durch moderne Kommunikations- und Informationstechnologie verschwimmt die Grenze zwischen Beruf und Privatleben zunehmend.
Das erfordert eine neue persönliche Kompetenz der Selbststeuerung und Achtsamkeit auf das eigene Wohlbefinden. Die Fähigkeit, im Beruflichen wie im Privaten die eigenen Grenzen zu erkennen und zu setzen wird zur Notwendigkeit, um gesund und leistungsfähig zu bleiben. Mit der steigenden Anzahl psychisch belasteter und »ausgebrannter« Menschen als Konsequenz einer weniger gelungenen Grenzensetzung geht eine Debatte um Abgrenzung von Arbeit, Entschleunigung und »Work- Life-Balance« einher. Die einen lächeln müde bei der bloßen Erwähnung des Begriffs, die anderen empfinden den Diskurs als dringende Notwendigkeit auf dem Weg zu gutem und gesundem Arbeiten und Leben.
»Work- Life-Balance«
Worüber aber reden wir da eigentlich, wenn wir über den mittlerweile schon recht abgenutzten Begriff »Work-Life-Balance« sprechen?
In der umgangssprachlichen Auffassung verstehen wir unter Work all die Aufgaben und damit verbundene Zeit, die wir im Auftrag des Unternehmens verbringen, in dem wir arbeiten und für die wir bezahlt werden bzw. womit wir unseren Lebensunterhalt verdienen. Schon über diese Definition können wir natürlich trefflich streiten.
Was ist mit den Aufgaben und der Zeit, die mit Haushalt und Familie verbunden sind? Was ist mit meinem Engagement als Vereinsvorstand, Sporttrainer, Pfadfindergruppenchef, Hobbysommelier?
Was ist mit jeglicher Form der (meist unbezahlten) Erfüllung von Aufgaben, die ich mir in dem Moment nicht konkret aussuchen kann, die ich für andere oder ein übergreifendes Wohl verrichte, die nicht mit einer Bezahlung verbunden sind? Und was ist eigentlich mit dem Beruf, den ich liebe, in dem ich meine Interessen und Fähigkeiten verwirklichen und leben kann, so dass Arbeitszeit keine große Rolle spielt und kaum das Gefühl aufkommt, dass ich »arbeite«?
Um noch bei der Trennung der Lebensbereiche zu bleiben: Life ist vermeintlich einfach erklärt als alles, was nicht Arbeit ist: Freizeit, Familie, soziales Engagement, Sport, Regeneration und Entspannung.
Der Vollständigkeit halber muss man hinzufügen, dass die Debatte zur Work-Life- Balance ihren Ursprung in den Neunzigern hat, als mit dem (wieder) häufiger werdenden Modell der Doppelverdienerpartnerschaft Fragen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in den Fokus rückten. Bei der Balance ist man sich gemeinhin einig, dass damit nicht ein 50:50-Verhältnis gemeint ist, sondern ein individuelles Gefühl einer ausgewogenen Gesamtlösung: So, wie es ist, ist es für mich passend und belastet mich insgesamt nicht.
Balance durch Trennung oder Verzahnung?
Begrifflichkeit hin oder her, Tatsache ist, dass wir unter anderem durch die Digitalisierung unserer Gesellschaft und die Flexibilisierung der Unternehmenswelt in Richtung 24/7 economy nicht mehr in einer Welt leben, in der Arbeit und Privatleben selbstverständlich getrennte Lebensbereiche sind.
Nun gibt es Menschen, die das bedauern und lieber, wie gehabt, zwischen Beruf und Privatem trennen wollen. Bei anderen verschwimmen die Grenzen ein wenig oder verschmelzen schon stärker.
Es gibt Menschen, die bewusst ihre Aufgaben und Interessen verzahnen, die ein sehr geringes oder kein Verständnis für die Unterscheidung von Lebensbereichen als solchen haben. Viele Menschen haben die große Chance und nutzen sie: beruflich das zu tun, was ihnen Freude macht, sie erfüllt, die Zeit vergessen lässt. Für sie fühlt es sich auch eher anregend als belastend an, den Großteil ihrer Zeit und Energie mit ihrem »Job« zu verbringen. Sie sind stark intrinsisch motiviert und können das Bedürfnis, Arbeit und Privates zu trennen, stellenweise überhaupt nicht nachvollziehen. Unter Gleichgesinnten besteht häufig ein stillschweigender Konsens darüber, dass der Beruf Berufung ist und die Lebensbereiche verschwimmen oder verschmelzen (beziehungsweise eben gar keine Bereiche als solche darstellen).
Das spiegelt sich vielfach im sozialen Umfeld wieder. Wer das Gros seiner Zeit im Kontext seiner Arbeit verbringt, verlagert häufig, ob bewusst oder unbewusst, seine sozialen Kontakte eher in diese Richtung. Neben der intrinsischen Motivation, dem Interesse an der Tätigkeit als solche, spielt für einige, vor allem hochqualifizierte Berufseinsteiger und Young Professionals, das berufliche Fortkommen eine sehr große Rolle. Sie möchten sich profilieren, weiterkommen, Geld verdienen und sehen viel und harte Arbeit als selbstverständliche Notwendigkeit dafür.
Es gibt auch diejenigen, die von sich sagen, sie arbeiten, um zu leben, und für die Arbeit eher eine ökonomische Notwendigkeit als eine Erfüllung ist. Das sind nun erst einmal die eher extremen Ausprägungen. Sicherlich leben einige wenige Menschen extreme Ausprägungen in die eine oder andere Richtung, umso mehr Menschen liegen »irgendwo dazwischen«. Menschen haben dementsprechend unterschiedliche Präferenzen, wie sie ihr Leben wahrnehmen und gestalten wollen. Diese müssen nicht absolut sein, ich lese beispielsweise aus Eigeninteresse etwas thematisch Berufliches zu Hause auf dem Sofa, trenne strikt Kollegen und Freundeskreis, nutze das Angebot, dass meine Kinder im Unternehmen ihre Hausaufgaben machen können. Die Konstellation von Werten, Bedürfnissen und Prioritäten kann sich jederzeit ändern. Langsam oder schlagartig, nach Lebensphase oder einem Lebensereignis.
Work-Life-Balance heißt Prioritäten setzen
Nun hat jeder Tag nun einmal 24 Stunden, von denen ein gewisser Teil schlicht mit Notwendigkeiten verbunden ist: Schlaf, Nahrungsaufnahme, Körperpflege, Wege von A(rbeit) nach B(ehausung), den Tag organisieren …
dazu kommen, je nach persönlicher Situation, Aufgaben rund um den Work-Life-Balance häuslichen Lebensraum, Sport und Bewegung, zwischenmenschliche Aktivitäten in der Familie, mit Freunden, mit dem Partner, Entspannung und Regeneration. Die einen nehmen sich mehr, die anderen weniger Zeit für Muße: Regelmäßige Hobbies verfolgen, interessante Menschen treffen, Veranstaltungen besuchen, sich für eine Sache engagieren, etwas Neues entdecken.
Irgendwo dazwischen liegt für die meisten von uns mit einem ziemlich hohen Zeitanteil die Arbeit beziehungsweise der Beruf.
Für den einen ist die regelmäßige Arbeit ein Job, für den anderen eine Berufung, wieder andere arbeiten mit viel Leidenschaft und Herzblut und setzen dennoch eine klare Grenze, ab welchem Punkt es genug des Guten für sie ist. Wie sich diese Priorität für jeden von uns gestaltet, ist eine sehr persönliche Frage. Der Luxus der unfassbaren Vielfalt an Möglichkeiten, Lebenszeit zu gestalten erfordert eine zentrale Metakompetenz: die Fähigkeit, mich mit meinen Bedürfnissen auseinanderzusetzen, mich zu entscheiden, was mir wichtig ist und so meinen Weg zu finden und je nach Lebensphase nachzujustieren. Ob nun eher viel oder eher weniger Arbeit der richtige Weg ist und ob sich diese Frage überhaupt stellt, ist individuell sehr unterschiedlich. Die Forschung geht allerdings weitläufig davon aus, dass Menschen, die über Interessen und damit verbundene Energieressourcen sowie Interessen in mehr als einem Lebensbereich verfügen, über lange Sicht stabiler und gesünder sind.
Der zentrale erste Schritt ist, zunächst für sich selbst Klarheit zu gewinnen, wie das Lebensmodell aussieht, das für jeden persönlich ausgeglichen ist und sich nicht belastend auf die Gesundheit und Leistungsfähigkeit auswirkt.
Welchen Namen auch immer man dem Thema gibt, im Diskurs um »Work-Life-Balance« geht es im Kern der Sache um die Frage der Einteilung von zur Verfügung stehenden Zeit- und Energieressourcen, und das hat mit mir selbst, aber auch mit dem Unternehmen, in dem ich arbeite, zu tun.
Jedes Unternehmen hat ein Interesse daran, das Leistungspotential seiner Mitarbeiter so weit wie möglich auszuschöpfen. Gleichzeitig bin ich nur dann motiviert, zufrieden und leistungsfähig, wenn ich mich wohl fühle, einen Sinn in meiner Arbeit sehe und gesund und leistungsfähig bin.
Ehrlichkeit und Klarheit gegenüber sich selbst und die Offenheit von Unternehmen für unterschiedliche Lebensentwürfe sind hier gefragt. Wenn die Organisationskultur einen offenen und wertschätzenden Dialog zu den Werten des Unternehmens und den Werten ihrer Mitarbeiter pflegt und daraus individuelle Arbeits-Lebens-Modelle strickt, ebnet das den Weg für ein starkes Team leistungsfähiger, motivierter und zufriedener Mitarbeiter und ebensolcher Bewerber.
(Lebens-) Wertorientierter Dialog als Weg zur Win-win-Situation
Wir wissen also, dass wir selbst und die Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, dann den besten Job machen, wenn sie zufrieden sind, sich wohl fühlen, ernst genommen werden, sich in einer Sache als erfolgreich wahrnehmen, positives Feedback erhalten, geliebt und wertgeschätzt werden. Dazu stellt sich die Frage, welches Lebensmodell Menschen in ihrer jeweiligen Situation brauchen, um zufrieden zu sein, und inwiefern dieses realisierbar und mit den Vorstellungen und der Erwartungshaltung des Unternehmens kompatibel ist.
Der Weg zu einer individuellen Work-Life-Balance-Lösung beginnt bei der Klarheit des Einzelnen selbst über seine Bedürfnisse, Wertvorstellungen und Erwartungen, und Klarheit des Unternehmens über dessen Werte und die Erwartungen und Erfordernisse des Arbeitsumfeldes. Daraus ergibt sich neben unterschiedlichen Vorstellungen in der Regel eine Schnittmenge, ein gewisser Grad an Kompatibilität.
Hierin liegt der Weg zur Lösung: wo sind Werte, Erwartungen und Bedürfnisse kompatibel, wo prallen inkompatible Wertvorstellungen aufeinander, welcher Kompromiss von wem ist diesbezüglich möglich. Vor dem Hintergrund dieser Schnittmenge stellt sich von beiden Seiten die Frage, wie aus ihr ein gangbares und zufriedenstellendes Lebens- Arbeitsmodell werden kann.
Gestaltung von individuellen Lebens-Arbeits- Modellen
Eine innovative Organisationskultur stellt die Menschen, die darin wirken, in den Vordergrund und eröffnet ihnen Raum, sich mit dem eigenen Wertesystem in Bezug zum Unternehmen auseinanderzusetzen. Sie setzt sich mit dem Wertesystem der Mitarbeiter sowie mit dem unternehmenseigenen Wertesystem auseinander und reflektiert über die Schnittmenge der beiden. So können individuelle Lebens-Arbeits-Modelle entstehen.
Fragen an mich selbst, mein Wertesystem und meine Bedürfnisse bezüglich Beruf und Privates:
■ Welche Interessen und Wünsche, Verpflichtungen und Aufgaben habe ich momentan in meinem Leben?
■ Was begeistert mich, bei welchen Gedanken glänzen meine Augen? Wofür brenne ich, was treibt mich an?
■ Was gehört für mich zum Gefühl, erfolgreich zu sein: eine steile Karriere, eine gesunde und glückliche Familie, mein Leistungssport, viel Zeit zum Entspannen … wieviel wovon? Wo möchte ich entsprechend Energie investieren und in welcher Wirkungsrichtung?
■ Inwiefern möchte ich Beruf und Privates trennen, inwieweit möchte ich diese Bereiche verzahnen?
■ Wie sieht entsprechend mein persönliches Lebensmodell in der jetzigen Situation und in naher Zukunft aus?
Fragen des Unternehmens an seine Mitarbeiter und an seine eigene Kultur:
■ Welche Interessen und Wünsche, Verpflichtungen und Aufgaben hat mein Mitarbeiter innerhalb und außerhalb der Arbeit, was bewegt ihn? Was motiviert diesen Menschen, was treibt ihn an?
■ Wünscht sich mein Mitarbeiter eher eine Trennung von Beruf und Privatem?
■ Was macht einen Mitarbeiter aus meiner Perspektive erfolgreich? Wie bewerte ich seine Leistung, seinen Erfolg?
■ Was erwarte ich grundsätzlich von meinen Mitarbeitern in puncto Flexibilität, Erreichbarkeit, Leis-tung in ihrer jetzigen Position? Was ist unbedingt erforderlich für ihre Aufgaben, wo ist Spielraum?
■ Welche Kultur leben wir, sind wir bereit für eine Vielfalt der Lebensentwürfe und wenn ja, inwieweit können wir dieses Versprechen einlösen?
Die Schnittmenge zwischen individuellen und unternehmerischen Werten zu bilden, erfordert Respekt und Wertschätzung für den Menschen als Ganzes, nicht nur für den Menschen in seiner Rolle als Mitarbeiter. Ein gewisser Fit von Interessen und Erwartungen kann mit Blick auf die Gesamtunternehmensebene relevant sein, spielt aber umso mehr auf Teamebene eine Rolle.
In der Zusammenarbeit im Team werden flexible oder unterschiedliche Arbeitszeiten, Arbeitszeitreduzierung, eine Auszeit, Home Office, etc. relevant; sobald individuelle Lösungen das Team betreffen, müssen sie auf dieser Ebene (mit)verhandelt werden.
Die Teamebene kann auch auf den ersten Blick inkompatible Haltungen ein Stück weit kompensieren, je nachdem wie stark die Gesamtkultur mit der Teamkultur korrespondiert bzw. welche Freiheitsgrade das Team im Vergleich zur Gesamtkultur bietet. Durch das Interesse des Unternehmens an beruflichen und außerberuflichen Bedürfnissen des Mitarbeiters signalisiert es ihm Wertschätzung.
Als Bonus hinzu kommt das Potential, dass privat eingesetzte Fähigkeiten auch im Unternehmen nützlich sein können, wenn wir einmal an die Führungskompetenz des Freizeitsporttrainers denken, oder die Fähigkeit der belesenen Hobbyphilosophin, komplexe Zusammenhänge zu erkennen.
Konkrete Gestaltungsmöglichkeiten von Lebens-Arbeits-Modellen im Unternehmen
Sieht man sich die unterschiedlichen Werte und Prioritäten der Mitarbeiter jeweils an, werden sich daraus Cluster bilden lassen, das heißt Mitarbeitergruppen mit ähnlichen Bedürfnissen hinsichtlich der »Work-Life-Balance«.
Solche Cluster sind nützlich, um ein sinnvolles Spektrum an betrieblichen Möglichkeiten zu entwickeln, mit denen Lebens- Arbeits-Modelle gestaltet werden können. Entsprechend ihrer Präferenzen, beispielsweise auch Trennung versus Verschmelzung von Lebensbereichen, und Prioritäten, werden Mitarbeiter entsprechende Gestaltungsoptionen im Unternehmen nutzen.
Flexible Arbeitszeitmodelle sind gängige Praxis, beispielsweise das Ansparen von Überstunden für eine Auszeit. Recht innovativ fragt ein Maschinenbauer aus Süddeutschland seine Mitarbeiter alle zwei Jahre aufs Neue, wie viel sie arbeiten möchten und wie die Arbeitszeit bestmöglich über die Woche verteilt sein soll.
Die Personalberatung i-potentials bietet ihren Recruitern einmal monatlich einen Personal Free Day, an dem sie zwar erreichbar, aber nicht im Büro sein müssen, als Ausgleich für Bewerbertage, die sehr früh starten und spät enden. Anpassungen der Arbeitsorganisation, beispielsweise das Home Office, werden zunehmend beliebter, wenngleich sie Unternehmen auch immer wieder vor Herausforderungen stellen. So hat beispielsweise ein Automobilkonzern dieses Angebot für seine Mitarbeiter aufgegriffen, welches jedoch nur für ca. 4 % der Belegschaft überhaupt in Frage kommt aufgrund der meisten Kerntätigkeiten, die einfach Präsenz vor Ort erfordern.
Die Optimierung von Arbeitsprozessen hat auch ein Hamburger Start-up aufgegriffen, eine Flowmanagerin trägt dort durch die Verbesserung von Arbeitsabläufen dazu bei, dass die Arbeit als sinnhaft empfunden wird und effizient vonstatten geht. Das schafft zwar an sich noch kein Work- Life-Balance-Gefühl, aber einen früheren Feierabend. Der Klassiker unter den Work-Life-Balance-Instrumenten ist natürlich die unternehmenseigene Kita oder Kooperation mit der Kindertagesstätte nebenan.
Aber auch die Möglichkeit, dass Kinder ihre Hausaufgaben im Büro machen können, wie zum Beispiel beim Ticketshop PANOTI, kann eine einfache Lösung sein. Wenn es um die Verantwortung für Kinder und Familie geht, sind Unternehmen vor allem in puncto kurzfristige Flexibilität gefragt, denn wenn der Nachwuchs krank ist, sind die Prioritäten meist klar gesetzt.
Bei allen vorhandenen Möglichkeiten in flexiblen Unternehmensumfeldern stehen Unternehmen und deren Führungskräfte in weniger flexiblen Betrieben scheinbar unveränderbaren Arbeitsbedingungen häufig hilflos gegenüber. Sie scheuen den Dialog mit ihren Mitarbeitern zu deren Bedürfnissen und ihrem Wohlbefinden, aus dem Gefühl heraus, ohnehin nichts ändern zu können. Sie unterschätzen damit, was es auslöst, darüber zu reden, denn miteinander zu reden, ist bereits eine Form des Handelns und zuhören bedeutet Wertschätzung. Der Dialog lohnt sich immer, denn er ergibt zum einen das motivierende Gefühl, wahrgenommen und ernst genommen zu werden. Zum anderen ergibt sich im Gespräch häufig eine deutlich geringere Erwartungshaltung und eine realistischere Einschätzung von Gestaltungsmöglichkeiten und -grenzen vonseiten des Mitarbeiters, als das Unternehmen es erwartet hätte. Ein kleiner Bonus, ein kleines Entgegenkommen lässt einen zufriedenen und motivierten Mitarbeiter den Besprechungsraum verlassen und einen bisweilen überraschten, ebenfalls aber zufriedenen Unternehmer zurück.
Herausforderungen auf dem Weg zu individuellen Lebens-Arbeits-Modellen
Nicht jedes Berufsfeld bietet den gleichen Gestaltungsspielraum für Flexibilität. In Systemen mit stark strukturierten Arbeitsabläufen (zum Beispiel Produktion, Logistik) ist Kreativität gefragt, um flexible Lösungen zu finden. Unternehmen, die von Kunden abhängig sind, sind zeitlich ebenfalls weniger flexibel (Callcenter, Kundendienst, Beratungsorganisationen, die meisten sozialen Berufe, etc.). Die Frage nach Individualität einerseits und dem Grundsatz der Gleichbehandlung und Chancengleichheit andererseits stellt sicherlich auch ein Spannungsfeld dar. In größeren und möglicherweise auch den eher traditionellen Unternehmen ruft ein individueller Wertedialog mit Einzellösungen gegebenenfalls die Arbeitnehmervertretung auf den Plan und mit ihr das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das Arbeitsschutzgesetz und ähnliche Regularien, die, wenngleich sinnvoll und notwendig, teils so gar nicht zu dynamischen und flexiblen Lösungen zu passen scheinen.
Generationenunterschiede können eine Rolle spielen, besonders in Unternehmen mit einer sehr diversen Altersstruktur, sprich, es gibt die Generation Y mit ihrem Ruf nach Flexibilität, die arbeitsfixierte Generation Golf in der Mitte und die Best Agers am anderen Ende, die sich fragen: »Wie soll das funktionieren, wenn nichts mehr einheitlich ist?«.
Weiterhin befinden sich Führungskräfte bezüglich des Work-Life-Balance-Themas häufig in einer Sonderrolle, da sie oft selbst ein Arbeitsethos vertreten, das mit viel Engagement und zeitlicher Präsenz im Unternehmen verbunden ist. Nach eigenen Prioritäten und der entsprechenden Work-Life-Balance-Gestaltung gefragt, lächeln viele Führungskräfte nur, nicht selten etwas gelangweilt. Dabei wird eine Organisationskultur, die sich einer neuen Gestaltung der Arbeit verschreibt und zugleich vorrangig von Führungskräften getragen wird, die eine »Work first«-Haltung vertreten, keine wirklich innovativen Gestaltungsmöglichkeiten leben können.
Individuelle Lebens-Arbeits-Modelle werden eher Ausnahmesituationen und Sonderlösungen sein, was es denjenigen, die sie leben, schwer macht, akzeptiert zu werden und den anderen erschwert, wirklich offen ihre Prioritäten zu klären und zu setzen.
Mitarbeiter brauchen Vorbilder, und um eine Arbeitskultur nachhaltig zu verändern, müssen alle mitmachen – jeder auf seine Weise und nach seinen Bedürfnissen.
Last but not least, jede Veränderung braucht ihre Ressourcen – wie oft heißt es, keine Zeit, kein Geld. Meist sind die Unternehmen, bei denen es die »guten Sachen« gibt, finanziell sehr gut aufgestellt und verfügen, vielleicht auch aufgrund ihrer noch geringen Größe (Start-ups), über eine vergleichweise hohe Flexibilität im Angebot von Work-Life-Balance-Instrumenten. Beispielsweise fragt ein Anbieter für die Gestaltung von Homepages nicht »Ist es das wert?«, sondern »Macht das Sinn?«. Wenngleich das zweifelsohne der gefühlt richtigere Ansatz ist, kann sich das nur ein Unternehmen mit einem komfortablen finanziellen Spielraum leisten.
Work-Life-Balance und Organisationskultur
Und was hat das jetzt alles mit Organisationskultur zu tun?
Es hat damit zu tun, dass zunächst einmal eine grundlegende Haltung des Respekts gegenüber unterschiedlichen Lebensentwürfen bestehen muss, damit individuelle Lösungen überhaupt denkbar werden. Erfolg, und damit verbundene Erwartungen an alle Menschen im Unternehmen, muss aus unternehmerischer Sicht verhandelt und definiert werden und dann auf die Teamebene heruntergebrochen werden.
Die Erfolgsdefinition spiegelt Werte wider, wie gestaltet sich Wertschöpfung im Unternehmen, woran wird der Erfolg gemessen. Am Ende des Dialogs über individuelle Wertvorstellungen mit der unternehmerischen Erfolgsdefinition in individuellen Gesprächen steht ein Konsens, der einen gewissen Spielraum ergibt, einen Schritt aufeinander zu bewirken:
was geht unter welchen Umständen, wie viel geht, inwieweit passen meine Werte mit der Erfolgsdefinition des Unternehmens zusammen, zu dem ich einen Beitrag leiste.
In der Konsequenz steht die gemeinsame Entscheidung zur Gestaltung der Arbeit, mit größtmöglicher Schnittmenge der Prioritäten und Werte des Unternehmens und des Mitarbeiters.
So individuell die einzelnen Vorstellungen auch sein werden, es lassen sich sicherlich Cluster bezogen auf Werte und Ziele und die damit verbundene Priorisierung von Zeit- und Energieressourcen bilden und somit verschiedene Pakete für unterschiedliche Bedürfnisse schnüren.
Die sechs Kennzeichen einer innovativen Organisationskultur kann man mit Handlungsfeldern rund um die Lebens-Arbeits-Gestaltung füllen:
Transparenz schafft Vertrauen –
Dazu gehört es, dass die gleichen Regeln für alle gelten, dass individuelle Lebens-Arbeits-Modelle grundsätzlich gewünscht werden und im Team gemeinsam entwickelt und für alle gangbar gestaltet werden.
Eigenverantwortung für den Einzelnen –
Jeder Einzelne muss sich darüber im Klaren sein, was ihm wichtig ist und dafür einstehen. Er ist der Kapitän seines eigenen Lebensentwurfs, das Unternehmen kann dabei von seiner Seite Optionen bieten und Spielräume schaffen.
Rollenwechsel für Führungskräfte –
Jede Führungskraft agiert vorrangig als Coach, Partner, Unterstützer und lebt ihrerseits ihr persönliches Arbeits-Lebens-Modell. Jede Führungskraft hat eine klare Vorbildfunktion. Jedem, der zum Unternehmenserfolg beiträgt, also natürlich auch der Führungskraft, sollte ein Lebens-Arbeits-Modell möglich sein, welches die größtmögliche Schnittmenge zwischen dem eigenen Wertesystem und dem Wertesystem des Unternehmens aufweist.
Kampfansage an die Zeitfresser –
Flache Hierarchien, eine hohe Selbstbestimmtheit und Verantwortung eines jeden Einzelnen ermöglichen, dass Führungskräfte Begleiter und Sparringspartner sind anstatt Kontrollorgane. Auf diese Weise ist es nicht erforderlich, dass die Führungskraft jeden Tag von früh bis spät am Arbeitsort verfügbar ist.
Maßgeschneiderte Arbeitsbedingungen –
Das Unternehmen kennt, respektiert und berücksichtigt – im Rahmen des Möglichen – die Situation eines jeden Mitarbeiters als »ganzer Mensch« und damit verbundene Bedürfnisse. Es entsteht ein auf Mitarbeitercluster zugeschnittener, bunter Strauß an Möglichkeiten, sich ins Unternehmen einzubringen.
Authentische Unternehmenskultur –
Insbesondere bezogen auf das Work-Life-Balance-Thema ist die Authentizität der Unternehmenskultur nicht zuletzt eine Frage der Unternehmenskommunikation – wie wird im Unternehmen miteinander über unterschiedliche Arbeits-Lebens-Modelle und damit verbundene Bedürfnisse gesprochen.
Wird eher neutral und sachlich darüber kommuniziert, wenn sich zwei Führungskräfte eine Stelle teilen, oder wird so eine »Konstellation« eher nicht ernst genommen? Eine authentische Werthaltung der Offenheit spiegelt sich darin wieder, wie wir mit-einander reden. Denn bekanntlich kann man nicht nicht kommunizieren.
Abschließend bleibt zu sagen:
Unternehmen, fragt eure Mitarbeiter, was sie brauchen und entwickelt mit ihnen Ideen, wie deren Arbeits-Lebens-Modell umsetzbar sein kann.
Du selbst, mach Dir klar, was Du brauchst, was zu Dir passt und wie Dein momentanes Lebens- Arbeits-Modell aussieht.
Zusammenfassung
Work-Life-Balance, oder besser:
die funktionierende Gestaltung von Lebenszeit und -energie
■ ist ein sehr individuelles und nicht für jeden gleichermaßen ein relevantes Thema
■ liegt erst einmal stark in der Eigenverantwortung des Mitarbeiters und …
■ erfordert Klarheit zu Prioritäten, Bedarfen und Bedürfnissen auf Seiten des Mitarbeiters und den Werten des Unternehmens
■ Unternehmen können durch einen konstruktiven Wertedialog und eine Kultur der Klarheit Gestaltungsoptionen und Freiräume anbieten und durch die Entwicklung individueller Lebens-Arbeits-Modelle jeden Mitarbeiter so zu seiner Zufriedenheit und optimalen Leistungsfähigkeit einsetzen.
Über die Autorin:
Cornelia treiben seit jeher Themen rund um die Leistungsfähigkeit von Unternehmen und den Menschen, die darin arbeiten, um und an. Rund um die Frage, wie gute und gesunde Arbeit funktioniert, beschäftigt sie sich mit Instrumenten der Personal- und Organisationsentwicklung, mit denen Menschen leistungsfähig, motiviert und zufrieden ihren größtmöglichen Beitrag in ihrem Unternehmen leisten können.
Dazu gehört unter anderem ein betriebliches Gesundheitsmanagement – wie können Unternehmen ihre Mitarbeiter dabei unterstützen, gesund zu bleiben bzw. mit Erkrankungen umgehen – und die Gestaltung einer innovativen Unternehmenskultur in Verbindung mit Prioritäten und Werten des Einzelnen – wie und mit welchem Stellenwert möchte ich mein Leben und meine Arbeit gestalten – und der essentiellen Frage, (in)wie(weit) diese zueinander passen. Im Rahmen von Seminaren, Projekten und Beratung in verschiedenen Branchen unterstützt Cornelia Führungskräfte und Mitarbeiter auf dem Weg zu guter Arbeit für Mensch und Unternehmen.
Quelle / Text / Lizenz
Der Beitrag „Work-Life-Balance: Arbeitest du noch oder lebst Du schon?“ wurde im Buch: „Gemeinsam Unternehmenskultur denken“ veröffentlicht und ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.