Reshoring gelingt, aber nur mit einer digitalen Fertigungsstrategie

Dies ist ein Gastbeitrag von Stephan Ellenrieder, Senior Vice President Zentraleuropa bei PTC sowie Geschäftsführer von PTC Deutschland

Was war das für ein Boom, vor allem rund um die Jahrtausendwende: „Auf in die Billiglohnländer nach Asien!“ So hieß es, als bestimmte Teilprozesse bis hin zur kompletten Produktion ins billige Ausland verlagert und hierzulande ganze Produktionsstätten geschlossen wurden. Immer mehr Produktlebenszyklen nahmen ab sofort in diversen weit entfernten Schwellenländern ihren Ursprung, wo die Arbeitslöhne niedrig und die Produktionsstückzahlen pro Tag extrem hoch waren.

Doch mit der Zeit wendete sich das Blatt und seit etwa zehn Jahren kommen mehr und mehr Unternehmen zurück nach Deutschland oder zumindest Europa. Nach dem „Offshoring“ wird die Rückverlagerung von Produktionsstätten aus Schwellenländern zurück in die Industriestaaten, das sogenannte „Reshoring“, mehr und mehr zum Trend – branchenübergreifend. Ob adidas, Stihl, Rowenta, Steiff, die Firma Electrostar, die durch die Spezialsauger-Marke Starmix bekannt ist, oder Modelleisenbahnhersteller Märklin – sie alle haben ihre Produktion komplett oder zum Teil zurück nach Deutschland geholt. Ein Grund dafür waren in den letzten Jahren sicherlich die steigenden Löhne in diesen früheren Niedriglohnländern, während es in Deutschland – auch durch neue Technologien und erste Automatisierungs- und Digitalisierungsschritte – eine leicht gegenläufige Entwicklung gab. Weitere wichtige und oft genannte Gründe sind die Produktionsqualität und -flexibilität, Fragen der Menschlichkeit oder des Umweltschutzes, die etwa in der Textilbranche derzeit heiß diskutiert werden. Schließlich sind die Produktionsbedingungen in diesen Ländern sehr oft mehr als fragwürdig. Zudem ist die CO2-Bilanz dieser „globalen“ Produkte erschreckend, wobei die CO2-Kosten traditionell gar nicht erst in die Produkte eingepreist werden. Zusammen mit dem Wegfall von den ebenfalls steigenden Transport- und Lagerkosten ist die Gegenrechnung in vielen dieser Fälle durchaus schon aufgegangen. Es gibt aber noch eine Reihe weiterer wichtiger Gründe, die für das Reshoring sprechen.

Corona führt uns die Abhängigkeit der Lieferketten vor Augen

Es ist diese eine Frage, die sich jedes Unternehmen des produzierenden Gewerbes spätestens jetzt stellen sollte: Wo soll ich zukünftig produzieren? Um lokal präsent zu sein, wie es etwa die Absatzmärkte für die hiesigen Automobilbauer sowie ihre Zulieferer in Asien oder Amerika erfordern, wird kaum ein Weg daran vorbeiführen, über mehrere globale Hubs zu operieren. Hier müsste der zukünftigen Absicherung der Lieferketten wegen eher geprüft werden, wie voneinander unabhängig diese einzelnen Hubs funktionieren sollten. Wenn somit nicht auf die Vorteile einer globalen Fertigung verzichtet werden kann, gilt es eine größere regionale Eigenständigkeit aufzubauen, etwa mit geschlossenen Produktionsökosystemen in den Regionen Europa, Asien und Amerika. Das vermindert das Risiko eines globalen Lieferkettenbruchs und berücksichtigt regionale Unterschiede in Marktbedarf und Ressourcenverfügbarkeit – quasi ein auf bestimmte Regionen eingeschränktes Reshoring.

Sollte es aber von jeher nur darum gegangen sein, billiger zu produzieren, als es um die Jahrtausendwende herum hierzulande möglich war, so zählen die alten Argumente kaum noch. Auch wenn die Lohnkosten in den Schwellenländern immer noch geringer sein mögen als hier, gibt es inzwischen längst zahlreiche Möglichkeiten, dies auszugleichen und selbst hierzulande nicht teurer produzieren zu müssen. Darüber hinaus bringen die Anforderungen der Märkte noch einige weitere Aspekte in die moderne Produktionswelt ein, die mit den alten Strukturen unmöglich zu realisieren sind. Der Trend zur Individualisierung von Produkten und Maschinen und damit zur Losgröße 1 oder die Einbindung von Sondermaschinen sind in den auf Massenproduktion ausgerichteten Billiglohnländern überhaupt kein Thema.

Eine digitale Fertigungsstrategie ist der Schlüssel

Für ein erfolgreiches Reshoring ist eine digitale Fertigungsstrategie unumgänglich. Sie ist die wesentliche Grundlage dafür, Fertigungskapazitäten wieder zurück ins Land oder zumindest auf den Kontinent zu holen und trotzdem am Markt bestehen zu können. Gleichzeitig muss das keinesfalls Vollautomatisierung und menschenleere, rein robotergesteuerte Maschinen bedeuten, was mit den flexiblen Produktionsanforderungen und der notwendigen Experteninteraktion vielerorts gar nicht möglich wäre. Die niedrigen Löhne der Schwellenländer werden mit anderen Faktoren ausgeglichen und teilweise sogar überflügelt.

Es gilt, die betriebliche Intelligenz und die Produktivität in der Fertigung zu erhöhen. Das beginnt bereits mit der Erfassung von Daten von Maschinen, Prozessen und Standorten, um diese zu analysieren und anschließend zu optimieren, um Ausfallzeiten von Maschinen und Anlagen zu reduzieren, ihre Kosten zu senken und den Produktdurchsatz zu erhöhen. Es erstreckt sich weiter auf die Mitarbeiter. Diese sollten befähigt werden, produktiver zu arbeiten, indem sie effektiv trainiert und angewiesen und mit Hilfe von Produkt- und Prozessdaten optimal durch alle Montage-, Qualitätsprüfungs- oder Wartungs- und Serviceschritte geleitet werden. Das alles ermöglichen zahlreiche neue Technologien, die vor 20 Jahren in den Hochzeiten des Offshorings noch nicht verfügbar waren. Das industrielle Internet of Things (IIoT) beispielsweise sorgt für die notwendige Vernetzung von Maschinen und Produktionsanlagen und die Möglichkeit, anhand von Analyseergebnissen besseren Entscheidungen in punkto Produktionsprozess, Maschinenauslastung oder Wartung zu treffen. Product Lifecycle Management-Technologien (PLM-Technologien) bringen alle relevanten Produktdaten dahin, wo sie gebraucht werden und Augmented Reality-Technologie (AR-Technologie) ist der effektivste Weg, seine Mitarbeiter zu schulen und anzuweisen, da sie alle notwendigen Informationen an Ort und Stelle und vor allem während der Durchführung der Aufgabe bekommen und nicht Handbücher und seitenlange Arbeitsanweisungsblätter rekapitulieren müssen. Mit AR können sie sogar standortübergreifend kommunizieren und beispielsweise die Einstellungen einer Maschine durchsprechen, während beide diese vor sich sehen. Der Mix all dieser Technologien ermöglicht neue Konzepte für die Digitalisierung der Produktion, zu denen u.a. die Werkerführung gehört. Hierbei ist es beispielsweise möglich, den gleichen Mitarbeiter flexibel an einem Montagearbeitsplatz für gleich mehrere aneinandergereihte Aufgaben einzusetzen, ohne dass er jedes Mal neu eingewiesen werden muss. Er selbst wird mittels AR-Technologie Schritt für Schritt visuell angeleitet, während alle Werkzeuge wie Schrauber oder Qualitätsprüfgeräte mittels IIoT-Technologie automatisch die für die jeweilige Aufgabe richtigen Einstellungen übermittelt bekommen. Vor allem in Zeiten des Fachkräftemangels lassen sich so Kompetenzlücken verhindern.

Die Beispiele zeigen, wie auch hierzulande eine hochflexible, schnelle und effiziente Produktion auf die Beine gestellt werden kann, die mit den früheren Auslagerungsstrategien mehr als konkurrieren kann. Und selbstverständlich können erfolgreiche Strategien einer vernetzten Produktion auch an den anderen Standorten eingeführt werden, wenn ein Verbleib in bestimmten Regionen und Märkten notwendig ist. Angesichts der Pandemie hat sich gezeigt, was kurze Produktions- und Transportzeiten bedeuten können, von der Möglichkeit der individualisierten Produktion, die schnelles Umrüsten und fließende Prozesse erfordert, ganz zu schweigen. Die neuen Technologien lassen die Menschen und Maschinen in den modernen Fabriken Hand in Hand arbeiten. Selbstverständlich bedeutet Reshoring auch einen Invest seitens der Unternehmen, der allerdings längst nicht so hoch ausfallen muss wie oft befürchtet wird. Zum einen sind etwa Sensoren und andere Technologie-Komponenten immer günstiger geworden, zum anderen führen der Zugewinn an Anlagentransparenz und Prozesseffizienz schnell zu echten Einsparungen. Und was die Handlungsfähigkeit während einer Pandemie betrifft, muss an dieser Stelle eigentlich gar nicht mehr erwähnt werden.

Lieferketten transparenter gestalten und absichern

Bei all den soeben beschriebenen technologischen Möglichkeiten für eine effizientere Produktion bleibt ein Bereich immer noch kritisch – die Lieferkette selbst. Die heutigen Autos beispielsweise bestehen aus mehreren tausend verschiedenen Bauteilen und Komponenten, die oft in mehreren Teilen der Welt produziert und zum Großteil Just-in-Time geliefert werden. Die Transparenz ist hier entscheidend. Ein jedes Fertigungsunternehmen sollte grundsätzlich jederzeit den Überblick darüber haben, aus welchen Komponenten sich ein Produkt in der jeweiligen Version und Konfiguration zusammensetzt, von welchem Lieferanten diese stammen, welche Lieferfristen und sonstige Einkaufskonditionen zu beachten sind. Einige strategische Zusatzüberlegungen sind vor allem mit Blick in die Zukunft jedoch unumgänglich und wichtiger denn je: Können die Lieferanten auf Basis ihres Standorts und der dortigen politischen oder wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine laufende Produktion gewährleisten? Wie hoch ist die Zuverlässigkeit im Rahmen der Geschäftsbeziehung? Wie lange wäre ein Lieferstopp zu verkraften? Was sind Alternativen, z.B. mehr Lagerhaltung oder ein Zweit-Lieferant in der Nähe, der die Liefermenge schnell hochfahren könnte? Diese Fragen müssen ergänzend zu der eigenen Standortfrage gestellt werden, möchte ein Unternehmen auch in Zukunft handlungsfähig bleiben.

Fazit

Im Gegensatz zur Situation vor etwa 20 Jahren ist die Produktion zu Hause oder zumindest in der Nähe wieder eine echte Alternative. Dafür sorgt nicht nur die Corona-Pandemie, die neuen Druck in das Thema gebracht hat, sondern vor allem neue Technologien zur Vernetzung und Visualisierung der Produktion, die ein höheres Lohnniveau hierzulande mehr als ausgleichen können. Eine digitale Fertigungsstrategie ist somit der Schlüssel, auch hierzulande bestehen zu können. Sicherlich gibt es Lebensbereiche und Märkte – die Medizintechnik und die Versorgung mit lebensnotwendigen Medikamenten zum Beispiel – bei denen die Forderungen nach einer stärkeren Regelung der Globalisierungsauswüchse seitens des Staates laut werden. Hier können auch auf diesem Wege wettbewerbsfähige Anreize geschaffen werden, die stark abgewanderten Produktionen zurück zu verlagern. Ansonsten muss ein jedes Unternehmen für sich abwägen, ob es mit seiner Produktion auch auf den anderen Teilen dieser Erde präsent sein muss und wie abhängig es von seiner Lieferkette sein möchte.

Über den Autor:

Stephan Ellenrieder ist seit Mai 2015 Senior Vice President Zentraleuropa bei PTC sowie Geschäftsführer von PTC Deutschland. Ellenrieder, der eine langjährige Erfahrung in der IT-Branche und insbesondere im Aufbau und der Optimierung von Vertriebsstrukturen besitzt, verantwortete unter anderem auch die globale Strategie des Automotive-Geschäfts von PTC sowie das strategische Großkundengeschäft in Zentraleuropa.

Bevor er im Jahr 2006 zu PTC wechselte, war er in unterschiedlichen Vertriebspositionen bei SGI, BEA Systems und Oracle tätig. Stephan Ellenrieder studierte Betriebswirtschaftslehre an der Georg-Simon-Ohm FH Nürnberg.

Weitere Informationen unter:
http://www.ptc.com/de