Globale Lieferketten brauchen ein neues Betriebssystem

Gastbeitrag von Christian Lanng

Wie der Handel mittels Digitalisierung sich eine krisensichere Lieferkette und Lieferantenbasis schafft.

Seit Jahrzehnten dominieren globale Lieferketten, die auf maximale Kosteneffizienz ausgelegt sind, den Welthandel. Wie hoch getunte Rennwagen sind diese komplexen Ökosysteme auf Leistung unter vertrauten und vorhersehbaren Bedingungen optimiert.  Aber wenn etwas Unerwartetes passiert, schneiden sie nicht gut ab. Als dann Covid-19 auftauchte, war das so, als würde man von einem Formel-1-Auto verlangen, ein Offroad-Rennen zu gewinnen.

Die Betreiber der Lieferkette wurden von der Pandemie auf dem falschen Fuß erwischt. Durch die begrenzte Transparenz in komplexen und ausgedehnten Lieferkettennetzwerken bekamen viele von den Unterbrechungen in ihren Lieferketten nichts mit – bis es zu spät war. Und da die Einkäufer ihre Aktivitäten einschränkten, waren die Lieferanten gezwungen, ihre Kapitalreserven aufzubrechen.

Volatilität als „neue Normalität“

Mehr als ein Jahr nach den ersten Lockdowns gewinnt die Erholung an Fahrt. Der aktuelle Index of Global Trade Health von Tradeshift zeigt, dass die B2B-Handelsaktivität im ersten Quartal 2021 um 10 Prozent gestiegen ist. Und während das deutsche BIP aufgrund der Abschottungsmaßnahmen um 1,7 Prozent sank, meldete IHS Markit, dass die Produktion im deutschen produzierenden Gewerbe im März auf ein Rekordhoch anstieg.

In den Lieferketten, die sich noch nicht vollständig von der langen Unterbrechung erholt haben, zeigen sich erste Risse. Unternehmen, die in Erwartung einer langen Rezession in die Pandemie gingen, wurden von der wieder anziehenden Verbrauchernachfrage erneut überrascht. Laut dem aktuellen Tradeshift Index stieg das Auftragsvolumen im ersten Quartal um 16,9 Prozent an.

Jeder fünfte Lieferant macht sich Sorgen, ob er mit der Nachfrage Schritt halten kann. Die Belastung der Lieferketten ist bei den Herstellern besonders akut. Die Auftragsvolumina in diesem Sektor stiegen im März um 80 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, aber die Rechnungsvolumina wuchsen im gleichen Zeitraum nur um 20 Prozent.

Dies deutet nicht nur darauf hin, dass die Lieferanten Schwierigkeiten haben, das Tempo der Auftragserfüllung beizubehalten, sondern auch darauf, dass die Käufer die Zahlungen nicht schnell genug freigeben, damit die Lieferanten die Reserven an Betriebskapital aufbauen können, die sie zur Beschleunigung der Produktion benötigen. In einer Umfrage fand Tradeshift heraus, dass fast ein Drittel der befragten Lieferanten in den letzten sechs Monaten eine Verschlechterung ihrer Cashflow-Position festgestellt haben. Fast die Hälfte gab an, dass die Zahl der verspäteten Kundenzahlungen seit Anfang des Jahres zugenommen hat.

Die Auswirkungen dieses Ungleichgewichts sind hinlänglich bekannt, von der Verknappung der Chip-Produktion bis hin zu in die Höhe schießenden Holzpreisen. In der Zwischenzeit haben Ereignisse wie die Blockade des Suezkanals, der Schneesturm in Texas und der jüngste Ölpipeline-Hack die Anfälligkeit von Lieferketten für einen einzelnen Ausfallpunkt innerhalb des Ökosystems und ihre Unfähigkeit, in einer Stressphase schnell genug umzuschwenken, noch deutlicher gemacht.

Ein System, das von Papier zusammengehalten wird

Ein großer Teil des Problems rührt von einem etwas banaleren Single Point of Failure her. Es sind die manuellen Prozesse, die den Handel weltweit steuern. Eine Studie von AP Moeller Maersk fand heraus, dass für die Verschiffung eines Containers von Kenia in die Niederlande mehr als 200 Dokumente zwischen 100 verschiedenen Personen ausgetauscht werden mussten, wodurch ein 25 cm hoher Papierstapel entstand.

Viele Unternehmen drängen in Richtung Digitalisierung. Aber die meiste Unternehmenssoftware ist der Aufgabe nicht gewachsen. Anstatt es Unternehmen leicht zu machen, sich miteinander zu verbinden, scheitern die meisten Digitalisierungsprojekte, weil sie in Inseln konzipiert sind. Jede 1:1-Verbindung ist ein Projekt für sich, das sowohl auf der Einkäufer- als auch auf der Lieferantenseite viel Zeit und Aufwand erfordert.

Einkäufer erhalten nicht die Transparenz und Flexibilität, die sie sich von der Digitalisierung wünschen. Und Lieferanten zögern, neue Systeme zu nutzen, die für sie nur weitere komplexe und zeitaufwändige Prozesse darstellen, die sie durchlaufen müssen, nur um bezahlt zu werden. Selbst die erfolgreichsten Anbindungsinitiativen für Lieferanten neigen dazu, sich bei einer Akzeptanzrate von etwa 20 Prozent einzupendeln.

Handel mit Zukunft: digitale Lieferketten-Netzwerke

Was ist also die Antwort? Die Allgegenwärtigkeit von Handy, Internet und sozialen Medien zeigt, wie das Leben zunehmend von der Digitalisierung bestimmt wird. Warum sollte es bei der Art und Weise, wie Einkäufer und Lieferanten miteinander interagieren, anders sein? Eine neue Art von Cloud-basierten Supply-Chain-Plattformen lässt sich von Websites wie LinkedIn inspirieren und hat die Vision, jedes Unternehmen auf der Welt digital in einem Netzwerk zu verbinden. Diese Plattformen ermöglichen es Einkäufern und Lieferanten sich in privaten B2B-Marktplätzen in Echtzeit auszutauschen, Angebote, Bestellungen, Lieferstatus, Rechnungen und sonstige relevante Informationen miteinander zu teilen.

Die Schaffung dieser digitalen Grundlage eröffnet eine ganzheitliche Sicht auf die Handelsbeziehungen, die die komplexe und vernetzte Natur moderner Lieferketten widerspiegelt. Es ermöglicht Entscheidungsträgern, einzelne Schwachstellen zu erkennen und schnell fundierte Entscheidungen darüber zu treffen, wie sie diese handhaben. Das Netzwerk verbessert die Zusammenarbeit mit Lieferanten und anderen Parteien im Lieferketten-Ökosystem. Entscheidungen, einschließlich der Suche nach neuen Einkäufern oder Lieferanten können schneller umgesetzt werden, was in Zeiten von Stress wichtig ist.

Was für Lieferanten das Beste ist, ist auch das Beste für Einkäufer

Die gesammelten Daten ermöglichen nicht nur Analysen in Echtzeit oder Überprüfungen der N-Tier-Lieferkette, wie sie mit dem neuen Lieferkettengesetz notwendig werden. Sie öffnen auch die Tür zu einer Reihe von Innovationen, die den Lieferanten einen Mehrwert bieten: vom verbesserten Zugang zu kundenindividuellen B2B-Marktplätzen, auf denen sie nach neuen Geschäftsmöglichkeiten suchen können, bis hin zu digitalisierten Finanzierungsoptionen, die ihnen einen schnelleren Zugang zu Betriebskapital verschaffen.

Einkäufer wollen sich gegen zukünftige Schocks wappnen und wissen, wie wichtig es ist, eine gute Beziehung zu ihren Lieferanten zu pflegen. Die Digitalisierung kann ihnen helfen, indem sie einen schnellen, besser vorhersehbaren Cashflow, Zugang zu mehr Lieferanten und mehr Optionen im Falle einer Störung bietet. Die Quintessenz ist, dass das, was gut für die Lieferanten ist, letztendlich auch gut für die Einkäufer ist.

Weitere Informationen: www.Tradeshift.com/de

Gastautor: Christian Lanng

Christian Lanng ist Gründer und CEO von Tradeshift, einem globalen Cloud-Netzwerk und Plattform für den B2B-Handel, die mehr als 1,5 Millionen Unternehmen weltweit nutzen. Lanng ist ein anerkannter Vordenker und Fortune-500-Berater. Er hat zahlreiche Auszeichnungen für seine Arbeit erhalten. Als Mitglied des Global Agenda Council on the Future of Software & Society des Weltwirtschaftsforums bestimmt Lanng mit, wie sich die nächste Generation der digitalen Ökosysteme von Unternehmen und Privatpersonen entwickeln wird. Er ist Co-Autor von Publikationen wie The Great Debate: Will Supplier Networks Thrive, Implode or Evolve?

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Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

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