Einer hat immer die Verantwortung

Ein Beitrag von Christian Bauer

Frankfurt, 04.04.2024 – Auf Augenhöhe arbeiten, Hierarchien abbauen oder gleich ganz abschaffen – viele Unternehmen versuchen sich dieser Tage an solchen oder ähnlichen New Work Konzepten. Ein paar glamouröse Erfolgsgeschichten täuschen dabei allerdings darüber hinweg, dass Führung auch etwas Positives hat. Der Chef gibt Führung ab, geht ein Jahr auf Weltreise und weil die Firma auch ohne ihn so gut läuft, zieht er sich operativ komplett zurück und schreibt ein Buch über diesen „New-Work-Erfolg“. Was jetzt zugegebenermaßen sehr stark verkürzt ist, können Interessierte im Buch „Radikal weg“ von Christian Puckelsheim deutlich ausführlicher nachlesen. Der Chef des Solinger Scherenherstellers Robuso hält seitdem Vorträge, berät und unterstützt andere Unternehmen auf dem transformativen Weg hin zu mehr Autonomie, Eigenverantwortung und schlanken Prozessen.

Der Trend, Hierarchien abzubauen und alternative Organisationsstrukturen wie Holokratie zu diskutieren, ist in vielen Unternehmen, insbesondere auf den Führungsebenen und unter den Personalverantwortlichen, derzeit stark präsent. Diese Diskussionen werfen Fragen bezüglich der Wirksamkeit solcher Modelle und ihrer Anpassungsfähigkeit an die Bedürfnisse der Mitarbeiter auf, denn die Erfahrung zeigt, dass für einige Menschen klare Leitlinien und Sicherheit entscheidend sind, um ihre volle Leistungsfähigkeit entfalten zu können.

Holokratie versus Diversity

Wir Menschen sind schlicht und ergreifend unterschiedlich. Was die einen zu Höchstleistung motiviert, lässt andere in eine Art Schockstarre verfallen. Und während die einen (Entscheidungs-) Freiheiten brauchen, um sich wohlzufühlen, sind es für andere die sicheren und verlässlichen Rahmenbedingungen. Das können auch Personalentwickler bestätigen, die nicht alle jungen, begabten Talente für Führungsaufgaben begeistern können. Während es die sogenannten „Natural-Born-Leaders“ gibt, fühlen sich andere innerhalb der eigenen Fachlichkeit deutlich wohler und sehen hier Perspektiven für ihre Karriere. Diese Menschen wollen nicht führen, sie wollen keine Personalverantwortung und auch keine strategischen Entscheidungen treffen, die womöglich andere beeinflussen. Auch das ist Diversity und auch das bringt Unternehmen letztendlich weiter. Für den langfristigen Erfolg braucht es sowohl die Führungstalente als auch die absoluten Fachkräfte. Ein unumstößliches Pochen auf Autonomie und Eigenverantwortung könnte also unter Umständen wertvolle Talente kosten.

Wie viel Verantwortung ist zu viel?

Was außerdem gegen eine reine Selbstorganisation durch die Belegschaft spricht, sind die unsicheren Zeiten, in denen wir leben. Bedingungen verändern sich rasant oder sind nicht mit allen Auswirkungen in Gänze einzuschätzen. Das heißt im Umkehrschluss, dass die Verantwortung, die Führungskräfte übernehmen, auch mit einem immensen Druck verbunden ist. Zwar müssen sich auch Führungskräfte auf die Informationen verlassen, die die Expertinnen und Experten im Unternehmen zusammentragen. Die finale Entscheidung – auch, wie viel Risiko man bereit ist, einzugehen – obliegt dennoch dem Chef oder der Chefin. Und auch darüber sind viele Mitarbeitende froh. Sie können nach Feierabend ohne diese Last nach Hause gehen, haben eine ganz andere Work-Life-Balance, die gerade für jüngere Generationen von großer Bedeutung ist.

Gemeinsam entscheiden dennoch sinnvoll?

An dieser Stelle müssen wir vermutlich einmal über die Definition von Hierarchie und Führung sprechen. Denn nur, weil die finale Entscheidung eben doch Chefsache bleibt, gleicht ein Unternehmen nicht automatisch einer Diktatur. Führungskräfte können zuhören, den Bedenken, Sorgen und Ideen der Belegschaft Aufmerksamkeit schenken, verschiedene Meinungen und Ansätze offen diskutieren und dennoch ihrer Führungsrolle nachkommen. Hierarchische Strukturen können auch wertschätzend gestaltet sein. Erfolg wird nicht allein durch einen Star im Team bestimmt, sondern durch ein Star-Team.

Dennoch gilt in Gruppen eigentlich immer das Prinzip: Einer oder eine muss die Führung übernehmen – und sei es nur die des Gesprächs. Hier stellt sich die Frage: Handelt es sich um eine „Dampfwalze“, die alle anderen im wahrsten Sinne des Wortes platt macht und das komplette Projekt an sich reißt? Oder gibt sie vielleicht nur die nötigen Impulse und Leitplanken vor, sodass die anderen Gruppenmitglieder sich einbringen und mit ihren jeweiligen Kompetenzen glänzen können?

Führung versus Diktatur 

Aus heutiger Sicht war Führung viele Jahre lang autoritär. Auch deshalb hat das Wort Hierarchie für die meisten Menschen nach wie vor eine negative Konnotation. Wenn man sich den griechischen Wortursprung jedoch anschaut – Hierarchie ist zusammengesetzt aus hierós und árchein, heilig und Führung, Führer sein – geht es jedoch nicht um Rangordnung oder gar Unterordnung. Hierarchie besagt lediglich, dass jede Person festgelegte Rechte, Befugnisse und Zuständigkeiten hat.

Es spricht also nichts dagegen, wenn Unternehmen der angestaubten Hierarchie neues Leben und vor allem neue Werte einhauchen. Wir dürfen sowohl in der Umsetzung als auch in der Gestaltung flexibler werden und uns aus starren Mustern lösen. So kann Hierarchie auch innerhalb verschiedener Projekte und Aufgaben wechseln. Dabei sollte nur nicht vergessen werden: Einer muss am Ende immer entscheiden und im Zweifel auch die Verantwortung tragen.

Über Christian Bauer:
Christian Bauer ist Partner im Münchner Büro von Odgers Berndtson. Er berät Unternehmen aus den Bereichen Retail & Consumer sowie Industrial Goods bei der Besetzung von Führungspositionen. Zusätzlich betreut er auch Klient:innen aus dem Sportsektor. Vor seinem Einstieg bei Odgers Berndtson war Christian Bauer als Strategieberater tätig. Er betreute dort nationale sowie internationale Unternehmen aus den genannten Branchen bei diversen Strategie- und Transformationsprojekten.

Weitere Informationen unter: www.odgersberndtson.com