Die digitale Transformation in der Montageplanung
Gastbeitrag von Alfred Peisl, Spezialist für die agile Softwareentwicklung bei der Sulzer GmbH
Im Jahre 2013 wurde Sulzer für die „Graphische Abtaktung“, die als ein Meilenstein in der Digitalisierung der Montageplanung gilt, für den „Lead Innovation Supplier Award“ eines deutschen Autoherstellers nominiert.
Die Montageplanung eines neuen Fahrzeugderivats beginnt Jahre vor dem Produktionsstart. Zunächst stehen Baubarkeit, Reihenfolge und Absicherung des Montageprozesses im Vordergrund. Die Montagetätigkeiten werden in Experten-Workshops am Modell erprobt und verfeinert, nach verschiedensten Kriterien bewertet und in der sogenannten Schwimmbahn-Technik visualisiert. Dazu dienen meterlange Pinnwände und Unmengen von dicht beschriebenen Karteikarten, die zu horizontalen Schwimmbahnen angeordnet werden. Die Schwimmbahnen sind vertikal in Takte unterteilt. Takte entsprechen Abschnitten gleicher Länge am Montageband. Fahrzeuge auf dem Montageband passieren einen Taktabschnitt in der sogenannten Taktzeit. Das ist auch die maximale Zeit, die ein dem Takt zugeordneter Mitarbeiter hat, um die für das jeweilige Fahrzeug nötigen Montagevorgänge auszuführen. An einem Takt können mehrere Mitarbeiter parallel in unterschiedlichen Bauräumen am Fahrzeug arbeiten. Jede Schwimmbahn repräsentiert ein Derivat plus einen Bauraum, jede Karte einen Montagevorgang. So können für eine Montagelinie pro Takt mehrere Derivate und Mitarbeiter parallel geplant werden. Die Aufspaltung in Derivate trägt der Tatsache Rechnung, dass an einem Band meist mehrere Derivate gefertigt werden. So will man frühzeitig Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Montagesequenzen erkennen. Mit Übergang in die Serienproduktion werden die Montagevorgänge pro Meisterbereich in Schichtpläne übernommen und monatlich aktualisiert. Das ist die sogenannte monatliche Abtaktung des Meisterbereichs (10 bis 20 Takte) durch den zuständigen Meister. Dabei werden die Planzahlen des Fahrzeugprogramms für den nächsten Monat in Häufigkeiten von Montagevorgängen übersetzt, Vorgänge zwischen Takten verschoben, neue Vorgänge hinzugefügt oder nicht mehr benötigte entfernt und die nötigen Werker-Kapazitäten bestimmt. Dafür existierte bereits ein tabellarisches Programm.
Ziel der Planung ist ein Montageprozess von hoher Auslastung, Prozessstabilität und Wertschöpfung. Auslastung und Wertschöpfung bestimmen die betriebswirtschaftliche Effizienz, Stabilität ist ein Schlüsselfaktor für die Qualität.
Im Jahr 2011 wurde die Firma Sulzer von einem deutschen Premium-Automobilhersteller beauftragt, prototypisch ein durchgängiges und innovatives graphisches Werkzeug für die Montageplanung zu entwickeln: Die Graphische Abtaktung. Sie sollte auf normalen Laptops einsetzbar sein, alle Planungsphasen überspannen und die analogen graphischen Methoden der frühen Phase für alle Phasen digital verfügbar machen.
Wir entschieden uns für eine agile Vorgehensweise. Fachliche Themen wurden zu Workshops gebündelt, welche in den Werken stattfanden und häufig Termine am Band umfassten. So konnten wir die Problematik in Theorie und Praxis kennenlernen, mit den künftigen Anwendern gemeinsam Lösungen erarbeiten und die Software auf das Problem fokussieren. Das Programm wurde inkrementell vorangetrieben, es gab stets eine aktuelle Version mit den neuesten abgestimmten Features, die wir mit den Anwendern erörtern und zur Erprobung bereitstellen konnten. Oft entstanden dabei spontan neue Ideen und Features infolge der Möglichkeiten des Werkzeugs, die am Anfang noch gar nicht sichtbar waren.
Zunächst bestand die Hauptaufgabe aber darin, die analoge Schwimmbahn-Technik unter Beibehaltung der etablierten Bedienmuster gleichwertig in eine graphische Benutzeroberfläche zu „überführen“. Die größte Herausforderung dabei war die Abbildung der riesigen Pinnwandflächen und deren enormer Informationsgehalt. Allein das simple Umheften eines Kärtchens zwischen zwei weit entfernten Takten ist digital ein Problem. Denn stellt man alle Takte gleichzeitig dar, werden die Kärtchen auf dem Laptopbildschirm so klein, dass sie nicht mehr erkennbar und „greifbar“ sind. Zoomt man näher an die Schwimmbahn ran, dann verschwinden Quelle oder Ziel der Verschiebung. Deswegen haben wir zahlreiche neue Techniken entwickelt, um diese „digitalen Defizite“ zu kompensieren. Dazu gehören sich automatisch einblendende und interaktionsfähige Lupen, duale Sichten oder visuelle Zwischenablagen.