Design Thinking – Vom Innovationsmotor zum Kulturtransformator

Design Thinking, vor zehn Jahren noch völlig unbekannt in Deutschland, hat sich in den vergangenen Jahren einen festen Platz in der Topliga der agilen Frameworks erobert. Viele Unternehmen haben mittlerweile ihre Produkt- und Service-Innovationsrate dank der Umstellung auf Design-Thinking-Prozesse erheblich beschleunigt und vor allem viel über Ihre Kunden erfahren. Eine Reihe von Agenturen und Unternehmensberatungen haben in den letzten Jahren Design Thinking in ihren Methodenkoffer gepackt und verkaufen es als neuen agilen Prozess.

Aber damit nutzen sie nur einen Bruchteil des Potenzials. Unternehmen wie Bosch haben erkannt, dass Design Thinking mehr ist als eine Innovationsmethode und begreifen es als Kulturtransformator. Wenn Sie sich im Rahmen der digitalen Transformation fragen, ob Ihre Organisation richtig aufgestellt ist, ob die Potenziale Ihrer Mitarbeiter sich frei entfalten können, ob Ihre räumliche Ausstattung noch zeitgemäß ist und wie Ihre Arbeitsprozesse und letztlich Ihre gesamte Firmenkultur agiler gestaltet werden können, dann sollten Sie hier weiterlesen.

Was leistet Design Thinking?

Mit Design Thinking, wie es an der HPI School of Design Thinking in Potsdam entwickelt wurde, kann eine Organisation die Kulturentwicklung in Gang setzen, die parallel zur Einführung digitaler Technologien notwendig ist. Design Thinking entfaltet die Potenziale der Mitarbeiter und motiviert und befähigt zur Selbstorganisation, ausgehend von kleinen, heterogenen Gruppen.

Der Ansatz ist insbesondere in Phasen grundsätzlicher Neuorientierung, Strategieentwicklung, Produkt- und Service- innovation und bei der Lösung komplexer Fragestellung extrem hilfreich. Dabei schärft er den Blick aller auf drei kulturrele- vante Faktoren. Das konsequent menschenzentrierte Denken und Handeln im Design-Thinking-Modus führt nachhaltig zu einer ganzheitlichen, unternehmerisch verantwortlichen Sicht und bewirkt letztlich ein dynamisches Re-Design der Organisa- tion hin zu permanenter Veränderungsbereitschaft.Für inkrementelle Verbesserungen und Veränderungen eignen sich andere Ansätze besser.

Geschichtlicher Hintergrund

Die Ursprünge im Silicon Valley

IDEO, ein kalifornisches Design-Unternehmen, gegründetvon David Kelley, Mike Nutall und Bill Moggridge, hatte schon in den 1990er-Jahren mit Design Thinking die ersten Interaktionsprodukte wie die Apple-Mouse oder den Palm V für die Digitalindustrie entwickelt. Richtig populär wurde der Ansatz und die Begrifflichkeit aber erst durch die d.school, die David Kelley 2005 als erste akademische Design-Thinking-Einrich- tung an der Stanford University in Palo Alto startete. Hunderte von Absolventen und viele Gründungen von Start-ups trugen den Ansatz in die Welt und brachten die iterativen Arbeitsmethoden, welche Designer und Architekten ohnehin intuitiv verwenden, in die Medizin, den Maschinenbau und den Finanzsektor. Es wurde bald klar, dass der Ansatz nicht nur bei der Entwicklung von Produkten enorm hilfreich sein würde, auch Dienstleistungen ließen sich deutlich verbessern bezie- hungsweise neu erfinden.

Hasso Plattner, Mitgründer und langjähriger Vorstandsvorsitzender des deutschen Softwareherstellers SAP, hatte schon kurz nach dem Start der d.school in Stanford den Kontakt zu David Kelley gesucht und war von dem, was er in den Containerräumen auf dem Campus erlebte, völlig begeistert.

Studierende aus vielen Disziplinen arbeiteten gemeinsam in kleinen Teams an der Lösung komplexer Fragestellungen, benutzten jede Menge visueller Werkzeuge und hatten sich einen Teil der Arbeitsumgebung selbst zusammengezimmert. In diesem »Kindergarten für Erwachsene« fühlte sich Hasso Plattner sofort wohl und erahnte, dass die Energie, die hier freigesetzt wurde, auch für sein Unternehmen enorm förderlich sein könnte. Er wurde mit einem zweistelligen Millionenbetrag der erste und größte Stifter für die d.school und installierte kurze Zeit später das »Design Services Team« bei SAP, das sich schrittweise in den Entwicklungsprozess bei SAP einbrachte. Der Nutzer stand von nun an im Zentrum des Interesses und die Begriffe »User Centered Design«, »User Experience Design« und »Design Thinking« wurden nahezu synonym benutzt.

Ein Modus zieht um den Globus

Im Oktober 2007 nahm die School of Design Thinking am Potsdamer Hasso-Plattner-Institut bereits kurze Zeit später ihre Arbeit als Schwesterinstitut der d.school Stanford auf. 40 Studierende aus rund 30 Disziplinen und 20 Hochschulen ließen sich zusammen mit 16 Professoren und Assistenten auf dieses Abenteuer ein und nach kurzer Zeit war dieselbe außergewöhnliche Energie zu spüren wie in Stanford.

Es war nicht die kalifornische Sonne, das Silicon Valley oder der außergewöhnliche Stanford-Campus, es war derModus, der offenbar schlummernde Energiepotenziale – die intrinsische Motivation – freisetzte und magische Wirkung zeigte.

Der Modus des 21. Jahrhunderts setzt auf ein Miteinander und weniger auf ein Gegeneinander. Er trainiert neben dem Denken mit dem Kopf auch das Denken mit den Händen, gene- riert anfassbare Prototypen und bezieht den Nutzer möglichst früh ins Ausprobieren ein. Dieser Weg zu Innovationen schafft eine Atmosphäre der Offenheit sowie des Vertrauens und akzeptiert das Begehen von Fehlern als integralen Bestandteil des iterativen Schleifendrehens. Das Ergebnis sind letztlich Ideen, die überraschen und die Experten in Erstaunen versetzen.

Zu Beginn ahnte noch niemand, dass in Stanford aus den anfänglich 20 Studierenden einmal 600 würden, die jedes Jahr d.school-Programme absolvieren und erst recht ahnte niemand, welche Wirksamkeit Design Thinking in deutschen Industrieunternehmen entfalten würde. Schon früh war klar, dass auch in Potsdam neben dem studentischen Programm – welches mittlerweile von 240 Studierenden im Jahr absol- viert wird – ebenso Weiterbildungsformate für Berufstätige entwickelt werden sollten. Aber dass aus den anfänglich circa 20 Teilnehmern dieses Programms mittlerweile mehr als 3 000 im Jahr geworden sind, hätte auch Hasso Plattner nicht für möglich gehalten. Die Teilnehmer tragen seither nicht nur einen neuen Denk- und Arbeitsmodus in die Welt, sondern lernen auch, dass neues, Kollaboration förderndes Mobiliar nötig ist um, sie dabei zu unterstützen. Aus den acht Arbeitstischen und 20 Whiteboards, die zu Beginn im Jahr 2007 gemeinsam mit dem Berliner Unternehmen System 180 entwickelt wurden, ist inzwischen eine »Design Thinking Line« entstanden, die in hunderten von Unternehmen in ganz Europa Einzug gehalten hat.

Weltkarte mit den Design-Thinking-Zentren

2017 feierte die HPI School of Design Thinking in Potsdam mit dem d.confestival bereits das 10-jährige Bestehen und so modellieren Hochschulstandorte aus der ganzen Welt Innovationsprogramme nach dem Potsdamer Vorbild (2012 die Communication University of China in Peking, 2013 das Genovasi-Institut in Kuala Lumpur, 2014 das Open- Lab in Stockholm). Zwei Hochschulen in der Türkei sind im Jahr 2016 auf dem Weg zu Design-Thinking-Labs durch die politischen Wirren leider gebremst worden, aber die dritte offizielle HPI d.school wurde 2017 im südafrikanischen Kapstadt eröffnet. Ein HPI-Lab in New York City bildet vorerst den Abschluss der internationalen Expansion des Hasso-Plattner-Instituts. Die Global Design Thinking Alliance (GDTA), ebenfalls gestartet im Jahr 2017, zählt derzeit elf Bildungseinrichtungen auf fünf Kontinenten und in der von SAP, Philips und Nestlé initiierten Design-at-Business-Initia- tive finden sich über 100 Unternehmen aus der ganzen Welt zu regelmäßigen Meetups zusammen.

Das deutsche Bauhaus als Vorbild

Was genau lässt immer mehr Unternehmen und Organisa-tionen auf Design Thinking aufmerksam werden? Laut einer Studie der Unternehmensberatung Deloitte war Design Thinking bereits 2016 auf Platz fünf der Top 10 »Important Trends to Business«. Es ist der massive Veränderungsdruck, mit dem sich unsere Gesellschaft insbesondere durch digitale Transformationsprozesse konfrontiert sieht – dies verbunden mit steigender Komplexität, der nur noch mit einem komplexen Modus sinnvoll begegnet werden kann.

Die drei Kernelemente des Design Thinking

Komplexität hatten bereits vor hundert Jahren die Bau- haus-Gründer im Sinn, als sie die Brücken zwischen einzelnen Kreativ-Disziplinen bauten und Architekten mit Musikern, Bildhauern, Malern und Theaterleuten in einen Ausbildungs- kontext brachten. Für David Kelley war das deutsche Bauhaus die Inspiration zur d.school. »Aber der Winkel der Kreativ-Disziplinen reicht mit dem Blick auf die Komplexität heutiger Probleme nicht mehr aus, wir brauchen 360 Grad, wir brauchen die Kompetenz aller Disziplinen«, meinte er auf die Frage des Autors, was ihn zum radikalen Konzept d.school motiviert habe.

Ein Team aus Teams

Damit rückt auch schon das erste der drei Kernelemente des Design Thinking in den Fokus: divers zusammengesetzte Teams. Nicht auf den genialen Einzelerfinder, nicht auf die homogene Expertengruppe, sondern auf kleine Teams mit großer Vielfalt in den Bereichen Expertise, Gender, Kultur und Persönlichkeit setzt Design Thinking. Teamgrößen von vier bis sechs Personen haben sich hier als besonders wirkungsvoll erwiesen. Dies ist eine Größenordnung, die alle aus familiären Kontexten kennen und die den Vorteil hat, dass kein Teil- nehmer übermäßig lange dominieren oder sich wegducken kann. Jede Stimme ist wichtig und wird gehört. Ebenso ist die Selbstorganisationskraft einer solch kleinen Gruppe sehr hoch. Daher braucht es wenig Kontrolle. Trotzdem empfiehlt es sich für ein solches Team, immer einen betreuenden Coach einzusetzen. Dessen Aufgabe ist es nicht, das Team zu steu- ern, er hat vielmehr Timing-Kontrolle, Konfliktmanagement und Prozessnavigation im Fokus. Diese hohe Betreuungs- dichte ist notwendig, weil wir bis heute überhaupt nicht trai- niert sind, in kollaborativen Kontexten zu arbeiten.

Die Bildungsapparate Schule, Ausbildung und auch die Hochschule haben nach wie vor eine hochgradig kompetitive Ausrichtung. Einzelbewertung steht im Vordergrund, Wissens- erwerb steht vor Kompetenzerwerb und Projektarbeit ist eher die Ausnahme. Daher ist es gar nicht leicht, auch nicht für die aktuelle Studierendengeneration der »Digital Natives«, sich in einem Design-Thinking-Ambiente zurechtzufinden, sich auf andere Menschen auf gleicher Augenhöhe einzulassen und seine Eigenleistung in den Dienst der Gesamtaufgabe zu stel- len. Auch wenn es in der d.school keine Einzelbewertung mehr gibt – statt des IQ steht hier der WeQ im Vordergrund – und selbst die Teams nicht bewertet werden, ist das nicht leicht.

Es braucht eine gewisse Zeit, bis die trainierten Ellenbogen-Mechanismen heruntergefahren sind, weil begriffen wurde, dass der Konkurrenzdruck von den Schultern des Einzelnen auf die Schultern des gesamten Teams verlagert wurde. Im Idealfall arbeitet so nicht nur ein Team für sich allein, vielmehr arbeiten mehrere Teams an einer Fragestellung in einer offenen Arbeitsumgebung, die es erlaubt, dass man sich gegenseitig wahrnimmt und die Zwischenergebnisse teilt.
Dieser Modus nennt sich »Team of Teams«.

Der atmende Raum

Unterstützend wirksam ist der variable Raum, der das zweite Kernelement des Design Thinking darstellt. Dabei geht es um den Schritt weg vom klassischen Konferenzraum, in dem Zah- len und Buchstaben dominieren, hin zu einem Experimentier- raum, einem geschützten Raum des Scheiterns, in dem über einen vereinbarten Zeitraum hinweg alle möglichen verrückten Ideen nicht nur gedacht, sondern auch prototypisch auspro- biert werden können. Die Stanford d.school hatte schon früh begonnen, mit neuen räumlichen Konstellationen zu experimentieren und schnell war klar, dass für einen dynamischen Kreationsprozess ein hochflexibles Mobiliar vonnöten war, das es damals, auch bei den großen Büromöbelherstellern, noch nicht zu kaufen gab. Die Industriedesigner in Stanford behalfen sich mit selbst gestalteten und produzierten Möbeln. Im Kern ging es um Arbeitstische für vier bis sechs Personen. Steh- Arbeitstische sollten es sein, denn Stehen erhöht die Arbeits- dynamik, und auch Whiteboards benötigte man in großer Zahl. Alles sollte auf Rollen möglichst flexibel positionierbar sein – Teamräume oder Workspaces müssen schnell vergrößer- oder verkleinerbar sein, sie müssen sozusagen »atmen« können.

Die Whiteboards bilden einerseits mobile Wände, visuelle und akustische Trenner rund um ein Team, und liefern zum anderen die Basis für einen dreidimensionalen Informationsraum, den sich das Team durch permanentes Verschriftlichen und Visua- lisieren der Ideen selbst erschafft.

Zu den Workspaces gesellen sich noch drei weitere Areale, die für Design Thinking relevant sind:

> der Share-Space,

> der Make-Space und

> die Lounge zum Netzwerken.

Der Share-Space besteht in der Regel aus Sitzmöglichkeiten für alle Teilnehmer, einer Bühne oder Präsentationsfläche und einem Video-Projektor. Das ist der Ort, an dem sich die Teams regelmäßig gegenseitig kurz den Stand der Dinge präsen- tieren und Feedback von den Teilnehmern bekommen. Dieser Austausch ist wichtig, um die Brainpower aller Beteiligten, nicht nur des eigenen Teams, für die eigene Arbeit nutzbar zu machen. So entsteht ein »Team of Teams«.

Im Make-Space finden sich Werkzeuge und Materialien, mit denen die Teams erste Prototypen bauen können und so den Denkprozess quasi mit den Händen fortsetzen. Bei kurzenWorkshoplängen reichen hier Scheren, Schneidemesser, Kleber, Tacker, Haftnotizzettel, Papier, Pappen, Pfeifenreiniger, Knet- gummi und ein paar Legobausteine und -figuren. In Potsdam gibt es für elaborierte Prototypen Werkbänke mit voller Werk- zeugausstattung für Holz- und Metallarbeiten, Farbdrucker, Plotter, Lasercutter und 3-D-Drucker, Foto- und Videokameras und Schneideplätze sowie Ausrüstung für Augmented- und Virtual-Reality-Produktionen.

Die Lounge ist mit Sofas und Beistelltischen für den ent- spannten Austausch in den Pausen ausgestattet. Hier wird auch für Getränke und Snacks gesorgt. Diese Vielfalt an räum- lichen Konstellationen – heute in Unternehmen noch eher im separierten Experimentierlabor zu finden, wird zukünftig die gesamte Arbeitswelt nachhaltig verändern.

In sechs Schritten vom Problem- zum Lösungsraum

Das dritte Kernelement des Design Thinking ist die Arbeits- methodik, der iterative Prozess, der von Architekten und Designern abgeschaut wurde. Es sind im Wesentlichen sechs Phasen, die je nach Projektlänge mehrfach durchlaufen wer- den, um möglichst schnell zu brauchbaren Ergebnissen zu kommen.

Die ersten beiden Phasen, Verstehen und Beobachten, dienen der intensiven Befassung mit der vorliegenden Frage- stellung. Worum geht es, was und wer steht im Mittelpunkt des Interesses? Welche Erfahrungen sollen adressiert und verbessert werden? Wie kann ich möglichst viel über und von den Adressaten erfahren? Hier reicht es nicht, im Internet oder in Bibliotheken zu recherchieren und wissenschaftliche Studien zu konsultieren. So wurde beispielsweise an die HPI School of Design Thinking von der Berliner Gefängnisverwaltung die Frage herangetragen, ob es Sinn ergebe, Häftlingen, die kurz vor der Entlassung stehen, beschränkten Zugang zum Internet zu gewähren. Die Recherchen dazu fanden natürlich direkt im Gefängnis statt. Viele Gespräche mit Häftlingen, Justizvollzugsbeamten, Sozialarbeitern und der Gefängnis- leitung waren nötig, um sich ein umfassendes Bild von der Problemlage verschaffen und dann den dritten Schritt gehen zu können. Hier galt es, einen klaren Standpunkt zu definieren, den Point of View, der die Startrampe bietet für die Ideenfindung, den vierten Schritt im Design-Thinking-Prozess.

Dieser Schritt findet im Workspace statt. Dabei tragen die Teilnehmer mithilfe verschiedener Brainstorming-Methoden möglichst viele und möglichst wilde Ideen zusammen. So ent- stehen in kurzer Zeit schon einmal hunderte von Vorschlägen, die alle auf Klebezetteln auf dem Whiteboard landen und dann
sortiert und geclustert werden müssen. Im erwähnten Gefängnisprojekt hingen über 100 Ideen am Board und einige von diesen signalisierten, dass es gar nicht so sehr um das Internet ging, als vielmehr um Informationsflüsse im Gefängnisalltag allgemein.

Eine Handvoll der besten Ideen werden ausgewählt, um in der fünften Phase des Prozesses – dem Prototying – in ein begreifbares Modell umgesetzt zu werden. Ein Prototyp kann ein physisches Produkt sein, analog dem Architektur-Modell bei der Planung eines Gebäudes. Es kann aber auch eine gespielte Szene oder ein animiertes Video sein. Hier geht es noch nicht um einen vollfunktionalen Prototypen, vielmehr ist es hier wichtig, mit möglichst wenig Aufwand die Idee so vorzustel- len, dass sie anderen Menschen schnell in ihren Wesenszügen präsentiert werden kann.

Dies ist wichtig für den sechsten und letzten Schritt – das Testing. Der Prototyp wird den möglichen Nutzern präsentiert und man spielt durch, wie es wäre, wenn es dieses Produkt oder diese Dienstleistung schon geben würde. Die Rückkopp- lungen, die das Team aufgrund des Testlaufs erhält, bilden die Grundlage für ein erneutes Durchlaufen des Prozesses zur Optimierung der Idee.

Die Wirkung von Design Thinking: Agile Lern- und Arbeitskultur

Auch wenn die Beschreibung des dritten Kernelementes den meisten Raum einnimmt, müssen die beiden anderen mit der gleichen Relevanz behandelt werden. Und alle drei sind hochrele- vant für die Veränderungsprozesse, die Unternehmen und Orga- nisationen im Rahmen der digitalen Transformation durchlaufen. Wie arbeitet man zusammen, wo arbeiten Menschen und welche Prozesse nutzen sie dabei? Diese Fragen stellen sich in der digi- tal vernetzten Welt neu und müssen daher erneut beantwortet werden. Die Antworten, die Design Thinking bereithält, führen bei konsequenter Umsetzung zu einer agilen Arbeitskultur. Und damit unterscheidet sich Design Thinking von allen anderen agilen Frameworks: Es geht bei Design Thinking nicht nur um einen neuen methodischen Ansatz, es geht im Kern um die Entwicklung einer agilen Lern- und Arbeitskultur.

Dies wird deutlich, wenn man sich die in den vergangenen Jahren rasant angestiegene Zahl der Unternehmensworkshops am Hasso-Plattner-Institut anschaut. Hier steht immer weniger Produkt- oder Dienstleistungsinnovation im Vordergrund. Es geht den meisten Teilnehmern um nachhaltige systemische Änderun- gen in der Unternehmensorganisation, die mit Design Thinking ganzheitlich angegangen werden können.
Aber auch in der internationalen Bildungslandschaft halten zunehmend vernetzte Denk- und Handlungsweisen Einzug.

So treffen sich neben den Design Thinking Schools in Stanford und Potsdam auch in Sao Paulo, Paris, Stockholm, Kapstadt, Kuala Lumpur, Peking und Sydney Architekten, Informatiker, Mediziner, Juristen, Designer, Maschinenbauer, Psychologen, Betriebswirte und viele andere Disziplinen, um gemeinsam in kleinen gemischten Gruppen an der Lösung komplexer Fragestellungen zu arbeiten.


Fallbeispiel: Kulturwandel bei Bosch

Eines der spannendsten Beispiele ist derzeit das Unternehmen Bosch, mit circa 410 000 Mitarbeitern einer der größten Arbeitsgeber in Deutschland und weltweit bekannt für beste Ingenieurleistungen.

Elf Geschäftsführer verantworten 16 Geschäftsbereiche, darunter BSH Hausgeräte, Car Multimedia, Thermotechnology, Packaging Technology und Power Tools. Mit einigen seiner Bereiche ist Bosch welt- weit größter Anbieter: Bosch Power Tools ist ein weltweit führender Anbieter von Elektrowerkzeugen, und Automotive einer der größten Automobilzulieferer weltweit.

Die Führungsetage von Bosch mit dem Vorstandsvorsitzenden Volkmar Denner an der Spitze hat sich schon vor einigen Jahren den Kulturwandel als oberste Priorität gesetzt. »Während viele noch glauben, dass die Vernetzung ein rein technisches Thema ist, haben wir längst verstanden, dass sie mit einer tiefgreifenden Kulturver- änderung im Unternehmen einhergehen muss«, meinte er in einem Handelsblatt- Beitrag 2018. Und mit dieser Kulturver- änderung hat der Konzernvorstand schon früh begonnen.

Bereits 2011 rief Denner, der Bosch konsequent auf die vernetzte Welt ausrichtet, den Bereich User Experience ins Leben, der in den letzten Jahren von Geschäftsführungsmitglied Uwe Raschke aufgebaut wurde. Der 60-jäh- rige Familienvater, der vor über 30 Jah- ren als Trainee bei Bosch begann, ist seit 2008 Geschäftsführer von Bosch und verantwortet unter anderem den Unternehmensbereich Konsumgüter, zu dem Elektrowerkzeuge und Haushaltsgeräte gehören.

Zusammen mit seinen Leitungskollegen betreibt er seit einigen Jahren einen Erneuerungsprozess, wie er in großen Unternehmen noch selten anzutreffen ist. Es geht hier nicht nur um den forcierten globalen Wettbewerb, dem nur mit stetiger Produktinnovation und starken Investitionen in Forschung und Entwicklung begegnet werden kann. Hier wird auch sehr intensiv über Führungskultur, organisationalen Wandel und nachhaltige Vernetzung gesprochen. »Ich komme noch aus der Generation Befehl und Gehorsam«, so Raschke zum Autor in einem Gespräch während eines Führungskräfteworkshops, »aber wie kommen wir von dieser eher militärischen Organisationsform hin zu einer, die der neuen, vernetzten Welt entspricht, aber trotzdem noch große Organisationen führen lässt?« Wie ist es um den Raum für Abweichler im Unternehmen bestellt? Wie wird künftig mit Richtlinienkompetenz umgegangen? Und wie kann Freiwilligkeit die Arbeit stärker prägen? »Vieles, was wir, die Generation Befehl und Gehorsam, noch akzeptiert haben«, meint Raschke, »wird von den jungen Generationen weder gewollt noch akzeptiert. Wir brauchen eine andere Qualität von starken Führungskräften mit strategischer Kompetenz, Ausbildungskompetenz und Lust am Coaching, die aber auch viel besser loslassen können, als wir das gelernt haben.«

Bosch Power Tools hat über viele Jahre eine der höchsten Innovations- raten im Konzern. Das förmliche Sie hört man seit Langem nicht mehr, Krawatten sind seit vielen Jahren passé, wie auch der Rest von Bosch seit einiger Zeit die Krawattenpflicht abgeschafft hat. Nutzerzentrierte Designprozesse wurden initiiert und viele Mitarbeiter in Design-Thinking-Workshops geschult. Eine Reihe von Mitarbeitern ließ sich zu Design-Thinking-Coaches ausbilden und interne Schulungsprozesse wurden in Gang gesetzt.

Bonusmodelle auf dem Prüfstand

Und noch etwas anderes wurde in Angriff genommen, das sehr stark den Kulturwandel bei Bosch hin zu einer ver- netzten Denk- und Arbeitskultur bewegt hat: die Bonuszahlung. Am 1. Januar 2016 führte Bosch weltweit ein neues Bonusmodell ein und verzichtet seither bei Führungskräften auf die Incenti- vierung individuell vereinbarter Ziele – individuelle Zielvereinbarungen wurden insgesamt abgeschafft. Stattdessen erhalten die Führungskräfte einen Bonus, der den weltweiten Erfolg der Bosch-Gruppe und den Erfolg der Ein- heit, in der sie arbeiten, gleichermaßen berücksichtigt.

Damit war Bosch das erste große Unternehmen in Deutschland, das sich radikal abwendet von der individualisierten Wettbewerbskultur hin zu einer mehr auf intrinsische Motivation setzenden Kultur der Zusammenarbeit.

Cross-funktionale Teams in inspirierenden Arbeitsumgebungen

Aber da mit einem veränderten Incentivierungsmodell allein der Kulturwandel noch nicht vollzogen ist, wurden weitere wichtige Veränderungen angegangen, vorab im Bereich Powertools. Mitarbei- ter wurden gebeten, über ihre Arbeits- umgebungen nachzudenken und diese nach ihren Bedürfnissen umzugestalten. Dies ging einher mit der Frage, wie Arbeitsprozesse und Organisations- struktur in der Zukunft aussehen sollten. Auch hier gab es kein Top-down-Verfahren, sondern den Aufruf in den Bereich, gemeinsam mit dem Betriebsrat über nötige Veränderungen nachzudenken und diese vorzustellen.

Für diese Planungsphase wurde ein zeitlicher Freiraum gewährt und man begegnete sich im Design-Thinking- Modus.

Das Ergebnis: eine neue Organisationsstruktur, die sich wegbewegt vom tradierten Silo-Modell hin zu einem Modell mit kleinen, cross-funktionalen Teams, die für einen längeren Entwicklungszeitraum zusammenarbeiten. Kommt man heute nach Leinfelden bei Stuttgart zu Bosch Power Tools, so findet man in den Büroetagen eine Reihe von kleinen Teams in neu gestalteten, offenen Arbeitsum- gebungen mit Kreativräumen, Prototyping-Werkstätten, Kaffeeküchen und Ruheräumen. Interessanter Nebeneffekt der Neuorganisation: von den sieben Hierarchieebenen, die es vorher gab, sind noch fünf übrig geblieben. Zwei der Ebenen haben sich als hinderlich für die agile Umgebung herausgestellt und sind verschwunden. Die Mitarbeiter sind nicht weg, sie sind in neuen Funktionen in den Teams unterwegs.

Veränderung der Organisationsstruktur von Bosch (Grafik: Bosch)


Der kulturprägende Dreiklang

Das Beispiel Bosch zeigt eindrucksvoll, dass es nicht die Einführung einer neuen Methode war, die zu diesen massiven Änderungen geführt hat. Vielmehr war es das Zusammenspiel der drei Kernelemente des Design Thinking, das behutsam und rücksichtsvoll in Gang gesetzt werden muss, und das mittel- und langfristig zu einer deutlich kollegialeren Struktur bei gleichzeitiger Beschleunigung der Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse führt. Es ist dieser kulturprägende Dreiklang des Design Thinking, der Antworten auf die drängenden Fragen liefert, die uns die digitalen Transformationsprozesse stellen.

Design Thinking ist vom Innovationsmotor zum Kulturtransformator geworden.

Autorensteckbrief

Professor Ulrich Weinberg leitet seit 2007 die School of Design Thinking am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam.In seinem Buch »Network Thinking – Was kommt nach dem Brockhaus-Denken?« fordert er zu radikal neuem Denken in Bildung und Wirtschaft auf.

Literatur
Brown, T. (2009): Change by Design: How Design Thinking Transforms Organizations and Inspires Innovation. New York: Harper Collins Publishers.
Hüther, G. (2011): Was wir sind und was wir sein könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher. Frankfurt: Fischer.
Kelley, D. und T. Kelley (2013): Creative Confidence. Unleas- hing the creative potential within us all. New York: Crown Business.
Laloux, F. (2014): Reinventing Organizations. A guide to crea- ting organizations inspired by the next stage in human con- sciousness. Brussels: Nelson Parker. Martin, R. L. (2009): The Design of Business. Why design thinking is the next competitive advantage. Boston: Harvard Business Review Press.
Meinel, C.; Weinberg, U. und T. Krohn (2014): Design Thinking Live. Hamburg: Murmann Publishers.
McChrystal, G. S.; Collins, T.; Silverman, D. und C. Fussell (2015): Team of teams: New rules of engagement for a complex world. New York: Penguin.
Mutius, B. von (Hrsg.) (2008): Die andere Intelligenz. Wie wir morgen denken werden. (3. Aufl.), Stuttgart: Klett-Cotta.
Spiegel, P. (2015): WeQ – more than IQ. Abschied von der Ich-Kultur. München: oekom.
Weinberg, U. (2015): Network Thinking. Was kommt nach dem Brockhaus-Denken? Murmann Publishers.

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Das vorliegende Werk liegt als E-Book-Ausgabe im Open Access vor und ist unter der DOI 10.12907/978-3-593-44123-6 registriert.

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