Von „People Sustainability“ und „Lousy Jobs“: Die neue Realität der Arbeitswelt?

Die COVID-19-Pandemie und die daraus resultierende Unsicherheit führen dazu, dass Unternehmen sich noch schneller mit der Zukunft der Arbeit befassen und ihre Arbeit umstellen. In diesen herausfordernden Zeiten fokussieren sich Führungskräfte zudem auf ihre Mitarbeiter, insbesondere deren Gesundheit, finanzielle Sicherheit und Unterstützung bei der Weiterentwicklung. So glauben 42 Prozent der Befragten einer aktuellen Studie, dass künstliche Intelligenz ihren Job übernehmen wird und technische Entwicklungen verändern demnach auch die beruflichen Laufbahnen. Schon vor der Coronakrise und ihren Auswirkungen steckten 99 Prozent der Unternehmen in Deutschland in einer Transformation.

Wir haben mit Michael Eger, Partner & Experte Talent Acquisition bei Mercer | Promerit und Dieter Kern, Partner & Leiter Leadership & Organizational Excellence Practice bei Mercer über die wichtigsten Ergebnisse ihrer Studie Global Talent Trends 2020 gesprochen.

Was waren die bemerkenswertesten Ergebnisse aus Ihrer Studie Global Talent Trends 2020?
Michael Eger: Transformation ist in aller Munde, aber dass 99 Prozent der Unternehmen in Deutschland angeben, sich aktuell in einer zu befinden, hat uns doch überrascht …
Dieter Kern: Stimmt. Wir hatten mit nur 95 Prozent gerechnet … (beide lachen)
Michael Eger:
Viele der weiteren Ergebnisse hängen unmittelbar damit zusammen: Reskilling ist einer der Top Trends. Employee Experience ist ebenfalls ein Aspekt, der zunehmend praktisch relevant wird. Wenn Unternehmen sich so stark verändern, dürfen sich ihre Mitarbeiter nicht abgehängt fühlen. Im Gegenteil, sie sollten sich als Teil des Ganzen begreifen und das Gefühl haben, diesen Wandel auch aktiv mitgestalten zu können.
Dieter Kern: Dazu kommen Themen wie Nachhaltigkeit und das Arbeiten mit Sinn („Purpose“). Hier kommen aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklungen wieder Ansprüche in den Blick von Mitarbeitern, die längere Zeit unter „ferner liefen“ geführt wurden. Durch die Krise sind diese freilich etwas in den Hintergrund geraten. Wobei durch Corona sowohl der Digitalisierungsgrad der Arbeit als auch der CO2-Footprint von Unternehmen sich zumindest vorübergehend deutlich verändert hat. 
Michael Eger: Was aber deutlich wird: Die VUCA-Welt mit viel Veränderung und Unsicherheit wirkt sich auch auf die Erwartungen der Mitarbeiter an den Arbeitgeber aus. So sind Themen wie die Unterstützung bei langfristiger finanzieller Sicherheit, Altersvorsorge, Gesundheit zunehmend wichtiger. Der ideale Arbeitgeber wird durchaus als Stütze und Orientierungspunkt in einer unsicheren Welt gesehen. Das wurde im Kontext von Corona noch deutlicher.

Wie wirkt sich aktuell die Pandemie auf die Arbeitswelt und z. B. das Sourcing aus?
Dieter Kern: Die Arbeitswelt insgesamt hat sich insofern verändert, dass die Digitalisierung bei nahezu allen Unternehmen massiv beschleunigt wurde. Das betrifft zunächst natürlich den viel diskutierten Aspekt Thema Home-Office, aber die Thematik liegt tiefer. Unternehmen sehen, dass es durchaus möglich ist, Mitarbeitern auch außerhalb des eigentlichen Arbeitsplatzes zu vertrauen – dass es aber auch entsprechende Regeln und Infrastruktur braucht. Auch des Thema „Führen aus der Distanz“ hat an Wichtigkeit zugenommen. Die Abstimmungs- und Meetingkultur hat sich verändert. Dabei geht es nicht nur darum, dass nun Zoom, Skype und Teams genutzt werden. Online-Meetings sind oft kürzer, internationale Meetings leichter möglich, Reisen für einen einstündigen Termin gibt es aktuell auch nicht. Die Frage wird sein: Die Frage wird sein: Wie viel davon, was jetzt gelernt und als positiv erlebt wird, bleibt übrig?
Michael Eger: Beim Recruiting kommt es darauf an, in welcher Situation die Unternehmen sind. In vielen Bereichen hat die Krise ja auch zu einem Einstellungsstopp geführt. Da ist dann oft eher die Frage, was man mit einer großen Recruiting-Organisation macht, die plötzlich angehalten wird. Anders als bei der letzten Krise 2008 sind vollständige Einstellungsstopps aber seltener geworden. Die meisten Unternehmen haben verstanden, dass die kritischen Funktionen, also z. B. die dringend benötigten Digitals, auch weiterhin wichtig sind. Das Recruiting verschiebt sich daher aktuell in Richtung eines gezielteren Sourcings. Da ist dann natürlich wichtig, wie der Recruiting-Prozess aussieht – aber dass Interviews auch per Videokonferenz möglich sind, dass Online-Tests hilfreich sein können usw. – das ist keine wirklich neue Entwicklung. Spannend sind Fragestellungen, ob man auch Menschen einstellen kann, die man wirklich nie persönlich gesehen hat und auch, wie der Onboarding-Prozess im Home-Office aussieht. Da sind wir aber wieder nahe an den oben genannten Themen zu den generellen Entwicklungen in der Arbeitswelt.
Dieter Kern: Zumindest in Deutschland haben wir noch nicht die großen Verwerfungen wie etwa in den USA. Und es gibt natürlich Branchen , die aktuell boomen, z. B. der Lebensmitteleinzelhandel, E-Commerce und Logistik. Auch im öffentlichen Bereich besteht ja weiterhin Bedarf an guten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Da gibt es durchaus die Möglichkeit, den aktuellen Arbeitsmarkt zu nutzen. Wie man sowas gut macht, zeigt beispielsweise meine Heimatstadt München. – Die aktuelle Situation verdeutlicht eben auch, dass Arbeitsplatzsicherheit und Verlässlichkeit wieder mehr geschätzt werden.

Welche Handlungsempfehlungen würden Sie basierend auf diesen Ergebnissen und Entwicklungen deutschen Unternehmen geben?
Michael Eger: Wichtig ist, die eigene Situation realistisch zu bewerten und den Blick nicht nur auf die Krise zu werfen, sondern auch auf die Zeit „danach“. Wenn die eigene wirtschaftliche Situation nicht hoch dramatisch ist oder die Krise ein schon schwankendes oder gar obsoletes Geschäftsmodell stark getroffen hat, dann kann die derzeitige Situation durchaus auch eine gute Chance sein, die Zeit zu nutzen und sich für die Zukunft aufzustellen.
Dieter Kern: Die meisten Institute gehen von einer Rückkehr zum Wachstum aus, die Frage ist nur, wann. Wenn die Krise eines noch einmal deutlich gezeigt hat, dann, dass Veränderung und Schwankungen unterschiedlicher Art das „Normal“ sein werden. Wenn Unternehmen jetzt lernen, die aktuell gut oder sogar besser als sonst funktionierenden Arbeitsweisen in ihre Abläufe zu integrieren, dann bestehen Chancen, dass das Unternehmen besser – oder wenn Sie so wollen – resilienter  ̶  wird. Dabei bleibt eine der großen Aufgaben für das Top Management weiterhin, Organisationen strukturell und personell auf Reaktionsschnelligkeit und Veränderungsfähigkeit hin zu organisieren

Michael Eger

Wie können sich insbesondere KMU in diesem Kontext aufstellen?
Michael Eger: KMUs haben aus unserer Erfahrung den Vorteil, dass sie sich oft schneller als andere verändern können.  Gerade die kleineren oder die inhabergeführten Unternehmen sind sehr schnell mit der neuen Situation klagekommen. Wenn sich kleine Unternehmen dessen bewusst sind und die Firmengründer und Inhaber auch in der Lage sind, Themen wie neue Formen der Führung, mehr Kollaboration beim Arbeiten und Digitalisierung auch strukturell und ohne Krise weiterzuentwickeln, dann haben sie gute Chancen, mit Schwung in das „Danach“ zu kommen.

Inwiefern lohnt es sich für Unternehmen, gerade jetzt in die Weiterbildung zu investieren, Stichwort Talent Management? 
Dieter Kern: Wichtig ist, dass ein Unternehmen versteht, welche Anforderungen sich aus Digitalisierung und Automatisierung ergeben und wie die Fähigkeiten der Mitarbeiter aktuell aussehen. Unsere Studie zeigt, dass zwei von fünf HR-Führungskräften nicht wissen, welche Fähigkeiten aktuell in ihrer Belegschaft vorhanden sind. Insofern ist eine klare Sicht darauf die Voraussetzung für sinnvolle Personalentwicklung.
Personalentwicklung sollte eben weniger auf Individualentwicklung, sondern mehr auf Kollektiventwicklung ausgerichtet sein, d. h. auf die konkrete Organisations- und Unternehmensentwicklung.  Das ist etwas anderes als der klassische Weiterbildungskatalog, bei dem jeder mal das Training besuchen kann, für das sie oder er sich aufgrund des Tagungshotels schon immer interessiert hat.

Mitarbeiter sind das größte Kapital eines Unternehmens. Wie können Unternehmen Ihre Studie in diesem Zusammenhang verstehen?
Michael Eger: Die Studie ist insgesamt ein Plädoyer für mehr Nachhaltigkeit. Damit ist nicht nur das Verhalten der Unternehmen bezogen auf Umwelt und Gesellschaft gemeint, sondern auch auf den Umgang mit Mitarbeitern und die langfristigen Perspektiven. Die Amerikaner sprechen von „People Sustainability“ – und das trifft es gut: Es geht schon lange nicht mehr darum, Menschen auf „Stellen“ zu setzen, in denen sie „Tätigkeiten“ „verrichten“. Vielmehr ist wichtig, dass Unternehmen dann erfolgreich sind, wenn es ihnen gelingt, Geschäftsmodell und Mitarbeiter synchron weiterzuentwickeln. Menschen möchten zunehmend für Unternehmen arbeiten, die in der Lage sind, sinnvolle Geschäftsmodelle zu entwickeln und zu vermitteln. Mitarbeiter möchten ihre Rolle in einem Geschäftsmodell verstehen und für sich Sinn erleben.
Dieter Kern: In allen Jobs wird das nicht möglich sein. Bei aller Digitalisierung und Automatisierung – und teilweise gerade wegen der Digitalisierung  ̶   wird es weiterhin, in manchen Bereichen sogar zunehmend, „lousy jobs“ geben, die ziemlich sinnentleert sind. Neben den klassisch prekären Bereichen ist an Digital Sweatshops oder Click Worker zu denken. Eine Arbeitswelt der Zukunft wird nicht zwingend und schon gar nicht für alle Beschäftigten eine bessere  ̶  eine Vorstellung, die Teile der „New Work“-Bewegung mit selbsternannten Evangelisten suggerieren. Da gibt es einige blinde Flecke, meist durch ökonomischen Eigennutz verursacht. Wer sich vom unnötigen Marktgetöse um „New Work“ nicht ablenken lässt, kann substanzielle Überlegungen und Ansätze, wie Arbeit organisiert werden kann, beobachten. Diese Ansätze sind nun ungeplant um einige Erfahrungen angereichert worden. Die grundlegenden Fragen zur Zukunft der Arbeit müssen jedoch nicht gänzlich neu gestellt werden. Die Unternehmen und Personalabteilungen, die diese Fragen erst jetzt stellen, sind allerdings etwas spät dran.

Weitere Informationen unter:
https://www.mercer.de/our-thinking/global-talent-hr-trends.html