Trend: Neue Bestattungskultur in Deutschland
Kassel/Süßen, Mai 2025. Der freie Zugang zu Beisetzungsorten und individuelle Trauerrituale ebendort haben große Bedeutung für Trauernde und Gesellschaft. Beides macht Friedhöfe zu wichtigen sozialen Orten. Darauf weisen Dr. Dirk Pörschmann, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal sowie Direktor des Kasseler Museums für Sepulkralkultur (Kassel) und Günter Czasny, Sprecher der Initiative „Raum für Trauer“ (Süßen) angesichts aktueller Diskussionen zur Aufhebung der Friedhofspflicht in einigen Flächenländern hin. |
Die Bestattungskultur in Deutschland wandelt sich stetig. Insbesondere Beisetzungsformen passen sich neuen gesellschaftlichen Lebensweisen an. Mit der vielleicht radikalsten Änderung steht aus psychologischer Sicht ein Tabubruch kurz bevor: In Rheinland-Pfalz soll der Friedhofszwang für die Asche von Verstorbenen entfallen. Das ist bislang nur in Bremen mit Einschränkungen der Fall. „Vielerorts sind bereits in den letzten Jahrzehnten Grabformen entstanden, bei denen wichtige persönliche Trauerrituale am Beisetzungsort unmöglich oder verboten sind“ berichtet der Kunsthistoriker Dr. Dirk Pörschmann, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal und Direktor des Kasseler Museums für Sepulkralkultur. Als Beispiele nennt er neben Seebestattungen auch anonyme Bestattungen, Rasenplattengräber und manche Formen von Gemeinschaftsgräbern. „Dabei braucht der Mensch in Krisen Rituale. Für Trauernde kann dabei die Nähe zu den Verstorbenen, der konkrete Beisetzungsort besonders wichtig sein.“ Diese Erkenntnis setze sich im Friedhofswesen immer stärker durch. „Wo persönliche Trauerrituale direkt am Beisetzungsort erlaubt sind – das können auch Grabstellen in entsprechend gestalteten, kostengünstigen Gemeinschaftsgrabanlagen bieten –, können Trauernde in Ruhe Abschied nehmen, solange wie sie es für die Bewältigung ihrer Trauer brauchen. Das sind höchst individuelle Prozesse, die auch Monate oder Jahre dauern können und dürfen“ hat Günter Czasny erkannt. Mit einem internationalen Team von Experten hat er in der Initiative „Raum für Trauer“ interdisziplinär dazu geforscht. Er zitiert Prof. Dr. Dr. Michael Lehofer, der das Grab als „individuellen Therapieort“ beschrieben hat, an dem Trauernde ihre Beziehung zu den Verstorbenen durch individuelle Rituale zunächst weiterführen können sollten. Prof Dr. Dr. Lehofer ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, klinischer Psychologe, Gesundheitspsychologe und Psychotherapeut sowie ärztlicher Direktor der Landesnervenklinik Sigmund Freud Graz und ärztlicher Direktor am LKH Graz Süd-West. „Wenn es Hinterbliebenen erlaubt ist, die Asche von Verstorbenen bei sich zuhause einzuschließen oder in der Natur zu verstreuen, droht diese Privatisierung sterblicher Überreste, andere Trauernde auszuschließen“, fürchtet Dr. Dirk Pörschmann. Ihnen werde damit, etwa bei Familienstreitigkeiten, die Möglichkeit entrissen, an einem frei zugänglichen, markierten Beisetzungsort ihre individuelle Trauer zu verarbeiten. Beisetzungsorte und auch Friedhöfe insgesamt, betont Günter Czasny, können besondere Fürsorge nicht nur an Menschen in Lebenskrisen, sondern auch an der Gesellschaft im Ganzen leisten: „Nach den Bedürfnissen Trauernder gestaltete Beisetzungsorte und Friedhöfe unterstützen diese nach unseren Erkenntnissen dabei, Halt zu erfahren sowie zu neuer Zuversicht und neuem Miteinander in der Gemeinschaft zu finden. Friedhöfe als soziale Orte sind damit ein wichtiger Teil der sozialen Infrastruktur. Ihre positive Wirkung auf das gesellschaftliche Miteinander wird oft unterschätzt. Dieses wertvolle Potential sollten wir nicht leichtfertig aufgeben, sondern unsere Friedhöfe entsprechend gestalten.“ Um wichtige Prinzipien einer menschenzugewandten Friedhofsgestaltung, die sich an den Bedürfnissen von Trauernden orientiert, zu veranschaulichen hat die Initiative Raum für Trauer im vorigen Jahr den „Campus VIVORUM“ (Feld der Lebenden), eröffnet. Das ca. 6.000 Quadratmeter große Experimentierfeld gibt Experten aus kirchlichen Institutionen, Hospizen, Trauerbegleitungen und Kommunen und Städte- und Gemeindegremien seither Impulse für die Gestaltung von menschenzugewandten „Friedhöfen der Zukunft“. Hintergrund: Die Initiative „Raum für Trauer“ entstand unter Federführung der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e.V. in Kooperation mit Institutionen, Gewerken, Vereinen und Verbänden der Trauer-, Bestattungs- und Friedhofskultur. Die Initiative stützt sich auf Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Arbeiten zu den Themen Trauer, Trauerverarbeitung und Trost. Die Erkenntnisse werden unter anderem in folgenden Publikationen ausgeführt, die über www.raum-fuer-trauer.de zu beziehen sind: „Acht Thesen zur Trauerkultur im Zeitalter der Individualität“ des Trend- und Zukunftsforschers Matthias Horx, „Der Friedhof als kommunales Erfolgsprojekt der Zukunft – Theorie und Praxis für Entscheider“ mit Artikeln zur am psychologischen Wirkpotential von Beisetzungsorten ausgerichteten Gestaltung zeitgemäßer Friedhöfe. Seine Autorinnen und Autoren sind Experten unter anderem aus Psychologie, Soziologie, Kognitionswissenschaften, Architektur und Landschaftsarchitektur. Das illustrierte Büchlein „Weiterreden, weiterleben – wie ein Grab als Trauerort dabei helfen kann“ beschreibt mit einem Vorwort von Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx anhand einer sehr persönlichen Erfahrung, welche positive Wirkung Beisetzungsorte auf Hinterbliebene haben können. Zu den Projekten der Initiative zählt auch die Online-Plattform www.trauer-now.de bzw. @trauernow. Das Familienunternehmen Strassacker, das sich als Kunstgießerei schon seit über 100 Jahren intensiv mit der Trauer- und Erinnerungskultur beschäftigt, hat mit unterschiedlichen Aktionen und Maßnahmen wie auch Forschungsprojekten mit dazu beigetragen, die Initiative zu entwickeln und zu realisieren. |