Nachhaltigkeit weiterdenken

Prof. Dr.-Ing. Markus Koschlik schildert der Redaktion die Lücken der Nachhaltigkeitszertifizierungssysteme im Bauwesen und diskutiert mögliche Lösungsansätze.

Herr Prof. Koschlik, vor welchen Herausforderungen steht das Bauwesen aktuell?

Deutschland hat sich zum Ziel gesetzt, dass bis zur Mitte des 21. Jh. der Gebäudebestand, der durch Herstellung und Nutzung für einen Großteil aller Treibhausgasemissionen ursächlich ist, nahezu klimaneutral sein soll. Aber auch die Schonung vorhandener Ressourcen, das Schaffen einer circular economy und die Verankerung der Prinzipien Effizienz, Konsistenz und Suffizienz beim Planen, Errichten, Nutzen und Zurückbauen unserer bebauten Umwelt sind der Anspruch, dem die Akteure des Bauwesens gerecht werden müssen. Der Oberbegriff hierfür ist Nachhaltigkeit. Zur Operationalisierung des abstrakten Nachhaltigkeitsbegriffes dienen im Bereich des Bauwesens heute u.a. diverse Zertifizierungssysteme.

Prof. Dr.-Ing. Markus Koschlik

Interviewpartner: Prof. Dr.-Ing. Markus Koschlik

Die vorhandenen Systeme werden ständig weiterentwickelt und bilden eine sehr gute Grundlage, um die Nachhaltigkeit von Bauwerken sichtbar und bewertbar zu machen. Allerdings können die Systeme nicht alle Fragen beantworten und jeglichen Zielkonflikt auflösen. Ein Beispiel hierfür ist die Phase von der ersten Projektidee bis zur Entscheidung für oder gegen die weitere Verfolgung des Projektes, die auch Projektentwicklungsphase (im engeren Sinne) genannt wird. In dieser Phase der maximalen Gestaltungsfreiheit des Bauherrn sollen auch die Projektziele festgelegt werden. Die Zertifizierungssysteme definieren bisher aber keine Methodik, um Projektziele unter Berücksichtigung der vielfältigen Wechselwirkungen des nachhaltigen Bauens widerspruchsfrei priorisieren zu können.

Welcher weitere Handlungsbedarf ergibt sich, um Bauwerke ganzheitlich nachhaltig erstellen zu können?

Es bedarf für bestimmte Projektphasen noch geeigneter Methoden, beispielsweise für die Ausschreibung und Vergabe von Bauleistungen, wo trotz vorhandener Möglichkeit, den Zuschlag auf das wirtschaftlichste Angebot zu erteilen, zumeist der Angebotspreis ausschlaggebend ist. Wirtschaftlichkeit umfasst neben dem Preis aber auch qualitative, umweltbezogene oder soziale Aspekte, die ganz im Sinne der Nachhaltigkeit einbezogen werden sollten. Hierzu könnte z.B. die Nutzung erneuerbarer Energiequellen für Baugeräte und die damit verbundene Einsparung von Treibhausgasemissionen monetarisiert und in den reinen Angebotspreis einbezogen werden. Ausschreibungszusätze mit konkreten Prozess- und Materialvorgaben sind ebenfalls sinnvoll.

Welche Herausforderungen ergeben bei der Übertragung dieser theoretischen Ansätze in die Praxis? Weshalb werden die bereits vorhandenen Methoden nicht immer konsequent angewendet?

Wichtige Projektentscheidungen werden häufig nicht auf Basis der zu erwartenden Nachhaltigkeit getroffen, sondern zumeist auf Basis ökonomischer Gesichtspunkte (Herstellkosten). Es gilt, alle Beteiligten zu sensibilisieren, dass das in der Herstellung günstigste Bauwerk selten das wirtschaftlichste oder gar nachhaltigste ist, betrachtet man den gesamten Lebenszyklus. Es ist also sinnvoll, die Nachhaltigkeit von Bauwerken nicht nur zu dokumentieren, sondern wichtige Entscheidungen auf Basis der Nachhaltigkeit zu treffen. So können durch Einbeziehung der Lebenszykluskosten oder Umweltwirkungen in den frühen Planungsphasen konkrete Variantenvergleiche durchgeführt und nachhaltige Ansätze entwickelt werden, z.B. für die Bauweise.

„Holz ist ein nachwachsender Rohstoff, der lokal verfügbar ist, während des Wachstums CO2 aufnimmt und als natürliche Senke wirkt.“

Prof. Dr. -Ing. Markus Koschlik

Welche Vorteile bieten Holz- oder Holz-Hybrid-Bauweisen im Vergleich zu herkömmlichen Massivbauweisen?

Holz ist ein nachwachsender Rohstoff, der lokal verfügbar ist, während des Wachstums CO2 aufnimmt und als natürliche Senke wirkt. Durch seine angenehme Oberflächentemperatur und die Fähigkeit, die Luftfeuchtigkeit in Gebäuden zu beeinflussen, trägt es zu einem gesunden Wohnklima bei. Aus Holz können tragfähige, schlanke und leichte Konstruktionen hergestellt werden, die sich nicht nur für den Neubau, sondern insbesondere auch für die Nachverdichtung bzw. Aufstockung im Bestand eignen. Holzkonstruktionen können effizient in Werken vorgefertigt werden, was zu hohen Genauigkeiten und Bauzeitverkürzungen führt. Kombiniert mit anderen Baustoffen, wie z.B. Beton, ergeben sich Hybride, die auch die Anforderungen des Brand- Schall- oder sommerlichen Wärmeschutzes problemlos erfüllen.

Welche Auswirkungen könnte die Corona-Pandemie auf den Begriff der Nachhaltigkeit haben und inwiefern ändert sich dadurch das Bewusstsein im Hinblick auf die Planung von Gebäuden und Städten?

Es ist zu erwarten, dass sich die Definition der Nachhaltigkeit mittel- und langfristig durch die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie verändern wird. Es ist denkbar, dass die soziale Dimension der Nachhaltigkeit eine wichtigere Rolle einnehmen wird. Dies wird sich z.B. in Form geänderter Anforderungen an das Wohnen äußern. Durch die Home Office-Quote, die nach der Krise auf einem deutlich höheren Niveau sein wird als vorher, ergibt sich ein zusätzlicher Bedarf an Arbeitsbereichen oder Arbeitszimmern im Bereich des Wohnens. Gleichzeitig müssen die Umnutzungsfähigkeit und Flexibilität der Gebäude stärker in den Fokus rücken, um etwaige Leerstände zu vermeiden. Das „social distancing“ in der Krise hat auch gezeigt, dass sich der Wegfall der Geselligkeit negativ auf Menschen auswirken kann. Lebendige und diverse Städte mit ausreichenden Begegnungsflächen können dem entgegenwirken.

Der Begriff der Nachhaltigkeit vereint verschieden Aspekte, die in der operativen Ebene immer unterschiedliche Ausprägungen aufweisen. Wie kann im Projektumfeld mit vielen unterschiedlichen Projektbeteiligten und Projektzielen in allen Planungsphasen ein einheitliches Verständnis gewährleistet werden?

Alle Aspekte des nachhaltigen Bauens können auf sogenannte Schutzgüter zurückgeführt werden. Die Schutzgüter bilden die strategische Ebene und sind auch die Basis für die Kriterien der bekannten Zertifizierungssysteme. In einem typischen heterogenen Projektumfeld mit vielen unterschiedlichen Projektbeteiligten, was die operative Ebene bildet, wird der Schwerpunkt der Nachhaltigkeit natürlich immer unterschiedliche individuelle Ausprägungen aufweisen. Deshalb sollte der Nachhaltigkeitsbegriff durch die maßgeblichen Stakeholder zunächst projektspezifisch im Rahmen der Projektentwicklungsphase definiert werden, beispielsweise durch das Entwickeln einer Nachhaltigkeitsstrategie auf Basis der bekannten Schutzgüter. Aus der Strategie können dann, auch mithilfe der Zertifizierungssysteme, in den Planungsphasen konkrete Maßnahmen abgeleitet und anschließend planerisch umgesetzt werden. Der Vorteil dieses Vorgehens liegt in der konsistenten Verfolgung einer projektspezifischen und von den Stakeholdern akzeptierten Nachhaltigkeitsstrategie über alle Projektphasen.

„Es gilt, alle Beteiligten zu sensibilisieren, dass das in der Herstellung günstigste Bauwerk selten das wirtschaftlichste oder gar nachhaltigste ist.“

Prof. Dr. -Ing. Markus Koschlik

Was würden Sie sich im Hinblick auf die politischen Rahmenbedingungen im Kontext nachhaltigen Bauens wünschen?

Die öffentliche Hand muss einerseits Ihrer Vorbildrolle stets gerecht werden und bei eigenen Bauprojekten noch stärker auf nachhaltige Lösungen setzen. In der Praxis besteht hier häufig noch der Zielkonflikt zwischen der Haushaltsplanung und dem Lebenszyklusgedanken. Andererseits muss das nachhaltige Bauen aber auch in der Breite ankommen – nur mit Leuchtturmprojekten können die Ziele der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie nicht erreicht werden. Dafür sind die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Eine Möglichkeit wäre, maßgebliche Aspekte der Nachhaltigkeit, wie z.B. Ökobilanzen, Lebenszykluskosten oder Raumluftqualitäten, über Leitlinien verpflichtend in die Instrumente der kommunalen Planung zu übertragen. Aber auch weitere Maßnahmen, wie die Einführung einer Baustoffampel analog zum Nutri-Score für Lebensmittel, die Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes für Recyclate oder die Aufnahme der Rückbauplanung in die HOAI-Leistungsbilder wären angemessene und wirksame Maßnahmen.

Welchen Anteil macht ungefähr das Bauwesen an der Gesamtbilanz der CO2-Emissionen aus?

In einer Veröffentlichung des BBSR aus dem Jahr 2020 wurden die CO2-Emissionen der Wohn- und Nichtwohngebäude in einer sektorübergreifenden Betrachtung bilanziert. Das heißt, dass die Umweltwirkungen von der Rohstoffgewinnung bis zur Errichtung von Gebäuden und von der Gewinnung bis zur Nutzung der notwendigen Energieträger für den Betrieb berücksichtigt wurden. Dabei hat sich ergeben, dass durch Herstellung, Errichtung, Modernisierung, Nutzung und Betrieb der Wohn- und Nichtwohngebäude insgesamt ca. 40 % aller CO2-Emissionen verursacht werden. Das entspricht einem Fußabdruck von 398 Mio. Tonnen CO2-Äquivalenten pro Jahr. Der größte Treiber sind hierbei Nutzung und Betrieb mit 297  Mio. Tonnen CO2-Äquivalenten pro Jahr – hier liegen also die größten Optimierungspotentiale.

Nachhaltigkeit & Bildung

Welchen Beitrag kann die DHBW Mosbach leisten, das nachhaltige Bauen voranzubringen und warum ist sie besonders prädestiniert dafür?

Die DHBW Mosbach kann im dualen Studium auf die enge Zusammenarbeit mit den vielfältigen dualen Partnerunternehmen zurückgreifen und dadurch Lehre, Forschung und Entwicklung stets praxisrelevant und praxistauglich gestalten. Aber auch aufgrund des Know-Hows und der Profilierung der DHBW Mosbach im Bereich des Holzbaus, der Holztechnik und der Holzwirtschaft können am Standort deutliche Synergieeffekte erzeugt werden. Darüber hinaus sind bereits heute die Expertisen aller branchenrelevanten Studienangebote der DHBW Mosbach in einem Baukompetenzzentrum zusammengefasst.

Welche Studienrichtung mit welchen Schwerpunkten bieten Sie an?

Die Duale Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) ist die erste staatliche duale Hochschule in Deutschland. Mit derzeit ca. 34.500 Studierenden ist sie zugleich die größte Hochschule in Baden-Württemberg. Die DHBW Mosbach bietet fast das gesamte Spektrum der wirtschaftswissenschaftlichen und technischen dualen Studienangebote, ist dabei aber der einzige Standort mit dem Studiengang Bauingenieurwesen in seiner dualen Ausprägung.

Der Studiengang Bauingenieurwesen mit den Studienrichtungen Projektmanagement Hoch- und Tiefbau, Fassadentechnik sowie öffentliches Bauen ist profilbildend für die DHBW Mosbach. Im Bereich des Studiengangs existiert seit 2021 ein erweitertes Studienangebot zur Vertiefung der Kenntnisse im Holzbau, gefördert durch eine Stiftungsprofessur des Ministeriums für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg

Duale Hochschule
Baden-Württemberg

Weitere Informationen zu den Studiengängen finden Sie unter:

https://www.mosbach.dhbw.de/

Was vermitteln Sie in Ihrem neuen Studienangebot Holzbau Ihren Studenten?

Neben der klassischen Tragwerksplanung mit dem Fokus des Holzbaues werden planerische Aspekte des konstruktiven Holzschutzes vermittelt. Das Wissen wird durch die Vorstellung von Holzbauprodukten ergänzt, sodass ein gezielter Einsatz der Produkte erreicht wird. Die bewusste Kombination von Werkstoffen zu Hybriden erfährt immer mehr Aufmerksamkeit. Im Studienangebot Holzbau werden den Studierenden Verbindungsmöglichkeiten und Berechnungsmethoden im Bereich des Holz-Beton Verbundbaus vermittelt, um den Dualen Partnernunternehmen praxisorientierte Lösungen an die Hand zu geben. Laubholzbezogene Werkstoffe werden näher beleuchtet, spezifische Bemessungsansätze vorgestellt und deren Einsatzmöglichkeiten aufgezeigt. Das Fügen von Bauteilen ist ein weiterer Schwerpunkt, welcher mit innovativen Verbindungsmitteltechniken vermittelt wird. Ein weiteres Lernziel bilden das serielle Bauen sowie die mehrgeschossige Bauweise im Holzbau.

Was verfolgt die DHBW Mosbach mit dem Projekt „Virtual Wood University“?

Die Virtual Wood University ist ein gemeinsames Projekt der DHBW Mosbach, namentlich der BWL-Holzwirtschaft, mit drei weiteren Hochschulen der Holzwirtschaft und -technik aus Finnland, Estland und Österreich. Europaweit erstmalig kann so die Fachexpertise verschiedener Hochschulen von Studierenden unabhängig ihres Herkunftslandes genutzt werden, ohne dass an allen Standorten jede Spezialisierung vertreten sein muss. Dies entspricht genau dem europäischen Erasmus-Gedanken. Das von Erasmusplus mit 217.000 € geförderte Projekt soll innerhalb von 3 Jahren gemeinsame Online-Module entwickeln, die Studierende aus allen vier Ländern studieren, um sie an ihrer Heimathochschule anrechnen lassen zu können. Im Anschluss daran ist geplant, das Projekt für weitere europäische Hochschulen zu öffnen, um zukünftig vollständige paneuropäische holzspezifische Studiengänge auf Bachelor- bzw. Masterebene anbieten zu können. Die Virtual Wood University startete zum 1. März 2021 mit 155 Studierenden aus den vier genannten Ländern.

 

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