Industrie 4.0 funktioniert nur mit Logistik 4.0
Das Thema „Industrie 4.0“ ist derzeit in aller Munde und nimmt langsam Gestalt an. Auf dem Nationalen IT-Gipfel im November in Berlin wurde eine Online-Landkarte der Plattform Industrie 4.0 vorgestellt, auf der über 200 konkrete Anwendungsbeispiele vorgestellt werden. Davon allerdings nur 15 aus dem Bereich Logistik. Doch die Vision einer sich selbst steuernden Smart Factory im Sinne von Industrie 4.0 setzt reibungslos funktionierende Lieferketten voraus. Denn: ohne Blutzufluss kein Herzschlag. Das klingt zunächst banal. Doch angesichts der exorbitant wachsenden Datenmengen lassen sich Transportketten im internationalen Verkehr mit herkömmlichen Tracking-&-Tracing-Methoden zukünftig nicht mehr managen. Schon heute sind die an den arbeitsteiligen Prozessen beteiligten Akteure mit Herausforderungen konfrontiert, die unerwünschte Bruchstellen nach sich ziehen und unplanmäßige Kettenreaktionen auslösen können.
Terminalbetreibern stehen zum Beispiel nur begrenzt Möglichkeiten zur Verfügung, Vor- und Nachläufe zu überwachen und auf Änderungen angemessen zu reagieren. „Im Extremfall kann es passieren, dass sich erst im Augenblick der geplanten Containerverladung herausstellt, dass der dringend erwartete Lkw samt Fracht noch nicht einmal in der Nähe des Terminals ist“, sagt Geert-Jan Gorter, Geschäftsführer der Dortmunder catkin GmbH, die ein unternehmensübergreifendes Kommunikationsportal für Logistik-Aufträge in komplexen Dienstleisterstrukturen entwickelt hat. „Dann ist Warten angesagt. denn auch der Spediteur kann oftmals nicht sofort exakt Auskunft darüber geben, wo sich der Lkw aktuell gerade befindet“, berichtet Gorter aus seiner Erfahrung.
Verstärkt wird dieses Dilemma, wenn er den Transportauftrag an Dienstleister oder Subunternehmer vergeben hat. Auch der Schienengüterverkehr wird häufig durch das Zusammenwirken zahlreicher Dienstleister abgewickelt. Es mangelt an Transparenz und valider unternehmensübergreifender Information, ein Umstand, der leicht zu Instabilität in der Transportkette führen kann.
Lieferketten werden zunehmend komplexer
Um einen durchgängigen Kommunikations- und Informationsfluss sicherzustellen, der keine Wünsche unerfüllt lässt, müssen sämtliche Teilnehmer einer Lieferkette samt ihren Geschäftsprozessen elektronisch miteinander vernetzt werden. Manuelle Datenübertragungen sind zu eliminieren. Gleichzeitig sollten relevante Informationen auf allen Hierarchieebenen – vom Kunden bis zu den Dienstleistern – in Echtzeit verfügbar sein. Erst dann lassen sich in einem weiteren Schritt auch unternehmens- und verkehrsträgerübergreifende Prozesse automatisieren.
Visionär betrachtet könnte die Ladung zukünftig auch selbst mit „Intelligenz“ ausgestattet werden, um den eigenen Transport in Eigenregie zu organisieren. Partnernetzwerke dieser Prägung funktionieren jedoch nur mithilfe geeigneter Logistikplattformen. Diese wiederum setzen einheitliche Kommunikationsstandards voraus. Neue und/oder veränderte Abläufe müssen schnellstens integriert und mobile Mitarbeiter via Tablet- oder Smartphone-Apps angebunden werden können. Die Folge: Jeder Teilnehmer wird jederzeit mit allen relevanten Informationen versorgt. Dazu zählen neben Details zum jeweiligen Auftragsstatus und Checklisten auch Statusinformationen der Vorgänger und Nachfolger.
Voraussetzungen für kollaborative Prozesse
Künftige Logistikplattformen nach dem Vorbild von Industrie 4.0 müssen zudem offen, also mit keinerlei Einstiegsbarrieren verbunden sein. Jeder Teilnehmer muss die Möglichkeit haben, sich via Web oder App ad hoc beteiligen zu können. Auch vorhandene IT-Anwendungen lassen sich sukzessive integrieren. Hierbei wird ganz nebenbei das bestehende ERP-System um mobile Apps für das eigene Personal ergänzt. All dies sind nur einige, wenn auch zentrale Voraussetzungen, um kollaborative Prozesse abbilden und eine nahtlose Zusammenarbeit in einem dynamischen Partnernetzwerk realisieren zu können.
Das Auftrags- beziehungsweise Kunden- und Dienstleisterportal catkin für die Steuerung von Unternehmenstransporten ist eine solche Plattform. „Es ermöglicht eine klar strukturierte Kommunikation zwischen den Beteiligten, schafft Transparenz über den aktuellen Auftragsstatus und unterstützt die Einsatzplanung von mobilen Ressourcen auf Personal- und Maschinenebene“, berichtet Geert-Jan Gorter. Darüber hinaus helfe der Informationsaustausch in Echtzeit, Fehlerquoten in der Disposition und Kosten insgesamt zu senken.
Etwa bei interkontinentalen Transporten, an denen z.B. Verlader, Spediteure, Containerterminals, Frachtschiffe, Güterbahnen und Lkw-Unternehmen beteiligt sind. Mithilfe eines übergreifenden Transportmanagements ließen sich administrative Prozesse erheblich vereinfachen sowie physische Durchlaufzeiten beschleunigen – und das zum Vorteil aller Parteien. Zu diesem Zweck müssen anfänglich gar nicht alle Akteure eingebunden werden, ein spürbarer Effekt macht sich bereits bei zwei Beteiligten bemerkbar.
Dies wiederum impliziert, dass auch Transportaufgaben über vergleichsweise geringere Distanzen, in die nicht gleich alle denkbaren Organisationseinheiten involviert sind, wesentlich effizienter abgewickelt werden können. Natürlich gibt es in Unternehmen den einen oder anderen Mitarbeiter, der einer solchen Anwendung zunächst skeptisch gegenübersteht. Dennoch: Der Weg in eine vernetzte Zukunft, in der die reale und virtuelle Welt miteinander verschmelzen, ist längst vorgezeichnet und in Ansätzen teils schon gelebte Realität.
Fünf Funktionsbereiche von Industrie 4.0
Laut einer aktuellen Studie umfasst Industrie 4.0 fünf Funktionsbereiche, die über Unternehmen und Branchen hinweg Gültigkeit haben: Datenerfassung und -verarbeitung, Assistenzsysteme, Vernetzung und Integration, Dezentralisierung und Serviceorientierung, Selbstorganisation und Autonomie. All diese Anwendungen sind für Logistiker schon längst keine Zukunftsmusik mehr.
Dennoch werden die damit verbundenen Potenziale nur zögerlich und bei Weitem noch nicht im vollen Umfang genutzt – auch das bestätigen die Verfasser der Studie. Insbesondere der Mittelstand müsse für den Nutzen und die Vorteile, die das Ziel einer sich komplett selbst steuernden Produktion mit sich bringt, sensibilisiert werden.
Die enge Verknüpfung digitaler Systeme und Modelle mit Gegenständen und Abläufen der realen Welt über geeignete Sensoren, Aktoren, Prozessoren und Software-Komponenten bedeutet einen Paradigmenwechsel und geht weiter über das hinaus, was bisher unter dem Stichwort „Digitalisierung“ diskutiert wurde. Noch ist die Mehrzahl dieser Systeme weitgehend geschlossen und verrichtet fest vorgegebene Aufgaben in vorgegebenen Kontexten.
Aber es ist offensichtlich, dass eine Öffnung und Vernetzung ganz neuartige Interaktionen und Einsatzfunktionen erschließen wird. Und erst dann können wir tatsächlich von einer Digitalisierung von Prozessen im Sinne einer Industrie 4.0 sprechen. Und erst, wenn mit Logistik 4.0 die Vernetzung von Produkten und Prozesse nicht am virtuellen Fabrikzaun endet, entsteht wirklicher Mehrwert für die Wirtschaft.
Über den Autor
Wolfgang Müller ist freier Journalist und langjähriger Blogger mit Sitz in Düsseldorf. Der ausgebildete Ingenieur beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Fragen der Logistik und von Industrie 4.0.
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