Ihr wollt mehr Visionäre? Dann schafft den Doktortitel ab
Dr. Gero Decker gilt als Vordenker. Er ist Co-founder & CEO von Signavio und General Manager Business Process Intelligence bei SAP
Es sind die Visionäre, die das Wirtschaftsgeschehen eines Landes prägen, in den USA etwa Jeff Bezos, Elon Musk, Larry Page oder Mark Zuckerberg. Vielleicht sind sie laut, non-konformistisch und manchmal auch unbeliebt, aber aus ihren Ideen sprießen große Innovationen, die die Welt verändern.
Und wo sind die deutschen Hightech-Pendants?
Es gab sie – vor einiger Zeit: Hasso Plattner zum Beispiel, und es gibt sie auch heute noch, schließlich gilt Deutschland als Innovationsweltmeister und gibt Rekordbeträge für Forschung und Entwicklung aus. Aber zum Leidwesen vieler ist die deutsche Kultur auch eine zurückhaltende: Mit unserem Selbstbild als Tüftler, Dichter und Denker favorisieren wir Gewissenhaftigkeit und Besonnenheit, und so treten unsere Visionäre vielleicht einfach nur etwas leiser auf als die Kollegen aus den USA. Im Zeitalter der Digitalisierung, in der die Innovationstaktrate schwindelerregende Höhen erreicht und Unternehmen ihre Produkte fast marktschreierisch vorstellen müssen, um nicht vom Wettbewerb eingeholt zu werden, ist Zurückhaltung in der Kommunikation allerdings nicht unbedingt die größte aller Tugenden.
Noch weniger tugendreich ist sie bei der Unternehmensgründung. So kommt es, dass wir nicht nur in der Kommunikation erhebliche Defizite gegenüber den USA haben. Bei der sogenannten Early-stage Entrepreneurial Activity ist deren Bevölkerung pro Kopf fast drei Mal öfter involviert als wir (1), US-Amerikaner rufen also deutlich mehr Start-ups ins Leben als Deutsche. Unsere Identität als gewissenhafte und akribische Entwickler ist uns so wichtig, dass wir die pragmatische Unternehmensgründung manchmal aus den Augen verlieren – die ja notwendig ist, um unsere Ideen und die daraus entstehenden Produkte am Ende zu vermarkten.
Die Anzahl der Unternehmensgründungen bestätigt diesen Zustand: seit Anfang des Jahrtausends hat sie kaum zugenommen. Und doch gibt es eine gute Nachricht, denn die Rahmenbedingungen für ein Start-up schätzen Deutsche heute deutlich besser ein als damals (2). Der Grund ist womöglich die ausgefeiltere Unterstützung durch Förderprogramme und Finanzierungsmöglichkeiten (3). Und auch die Hochschulen engagieren sich – unterstützt von der Wirtschaft – zunehmend bei der Gründungsberatung, schaffen Netzwerke und tragen so zum positiven Stimmungsbild bei.
Weil viele Einrichtungen noch in alten Strukturen oder Denkweisen verhaften sind, sind sie gleichzeitig auch Bremser, wenn sie ihren Studierenden und wissenschaftlichen Mitarbeitern die Promotion ans Herz legen: sie passt ach so gut zu unserer Denker-Mentalität. Ich kontestiere allerdings und behaupte: ein Doktortitel ist überflüssig und eine große Verschwendung von Lebenszeit und Energie. Die besten Ideen kommen in jungen Jahren und der Elan ist verpufft, wenn Doktoranden mit 30 oder 35 Eltern geworden sind und keine finanziellen Risiken mehr eingehen wollen. Die USA machen es richtig mit ihrer pragmatischen Macher-Mentalität! Und wie: Vor lauter Tatendrang haben Michael Dell, Bill Gates oder Steve Jobs nicht einmal ihren regulären Uni-Abschluss abwarten können. Wie wir wissen, sind sie deswegen alles andere als gescheitert.
Aber das Bewusstsein verändert sich, vor allem hält uns die Globalisierung den Spiegel vor, zeigt uns das Potenzial von Start-ups und motiviert uns. Und bei all den verbesserten Rahmenbedingungen kann niemand mehr behaupten, es gäbe strukturelle Nachteile und der Standort Deutschland hinke hinterher, ganz im Gegenteil. Nicht nur die Unterstützung von Staat, Hochschulen und Wirtschaft, auch der hervorragende Bildungsstand, vergleichsweise günstige Lohnkosten und eine geringe Mitarbeiterfluktuation machen Deutschland und deutsche Start-ups mittlerweile sehr attraktiv für Investoren aus aller Welt. Beispiel Berlin: Hier ist ein Ökosystem mit einer gigantischen Sogwirkung entstanden, das neben New York, London oder Paris zu den größten Start-up-Hotspots weltweit gehört, auch wenn es in vergangenen Jahren international Federn lassen musste (4). Im Mittelpunkt stehen jedenfalls Hightech-Kompetenzbereiche wie Fintech, KI, Big Data, Analytics oder Prozessmanagement.
Das sind auch Bereiche, in denen Gründer und Gründerinnen mit Migrationshintergrund glänzen, denn die große Mehrheit von ihnen hat nicht nur einen akademischen Abschluss, sondern verfügt auch über umfangreiches MINT-Wissen (5). Diese Gruppe trägt übrigens erheblich zur Diversität und damit Innovationsfähigkeit von Start-ups bei. Dass in einer heterogenen Umgebung bessere Ideen entstehen als in einer homogenen, liegt auf der Hand. Kleine Notiz am Rande: Gründer und Gründerinnen mit Migrationshintergrund favorisieren eindeutig Berlin als Start-up-Ökosystem, sie gründen ihre Unternehmen dort zweimal öfter als im Rest der Republik; rühmliche Abweichler sind – die leisen – Uğur Şahin und Özlem Türeci, die Biontech in Mainz aufgebaut haben (6).
Ich rechne damit, dass die Anzahl der Unternehmensgründungen in Deutschland dem positiven Stimmungsbild für Start-ups folgen und aufgrund der Rahmenbedingungen in den nächsten Jahren stark ansteigen wird – und ansteigen muss, denn mit Südkorea, Japan und China gibt es New Kids on the Block, die ihren Teil vom Kuchen abhaben wollen und deshalb richtig Gas geben. Hinzu kommt, dass unsere alteingesessenen Industrien, allen voran die Automobilindustrie, vermutlich an Bedeutung verlieren werden (7). Wett zu machen ist dieser Rückgang lediglich mit innovativen Start-ups auf breiter Front, und zwar in den globalen Wachstumsmärkten.
Vorerst haben wir noch einen komfortablen Innovations-, Forschungs- und strukturellen Vorsprung, und wir sollten ihn mindestens halten, besser noch ausbauen. Wenn wir das schaffen, sind in spätestens 15 Jahren unsere deutschen Visionäre zumindest im Hightech-Umfeld auch wieder sichtbar – vorausgesetzt, sie treten etwas lauter auf als bisher.
Quellen:
(1) Global Entrepreneurship Monitor 2019/2020
(2) Global Entrepreneurship Monitor 2001-2006 und 2008-2019
(3) Joachim-Herz-Stiftung: Warum gründen Deutschlands Forscherinnen nicht, 2021
(4) The Global Startup Ecosystem Report 2020
(5) Migrant Founders Monitor, 2021