Europa braucht Digitale Bauhäuser
Dies ist ein Gastbeitrag von Dr. Kim Lauenroth
Im Jahr 2019 haben wir 100 Jahre Bauhaus gefeiert. Für einen Menschen sind 100 Jahre eine Ewigkeit. Daher sind die Meinungen über das Bauhaus und sein Erbe mittlerweile recht vielfältig. Es gibt zahlreiche Bücher und Streitschriften, die das Bauhaus von verschiedenen Seiten beleuchten und sein Erbe diskutieren. Bloß kein neues Bauhaus gründen, so ließe es sich im Extrem zusammenfassen. Es entsteht der Eindruck, dass das Bauhaus zwar ein wichtiger Teil der Geschichte ist, aber mehr auch nicht.
Im Bitkom haben wir im Rahmen unserer Arbeiten am Digital-Design-Manifest einen eigenen Zugang zum Bauhaus gefunden. Unser wesentliches Fazit ist, dass das Bauhaus mehr ist, als Geschichte. Die Motivation für seine Entstehung, seine Ideen und Ideale liefern eine Blaupause für den gerade erst beginnenden digitalen Wandel in Deutschland.
Bis vor wenigen Wochen haben wir uns mit unserer Idee der Neugründung Digitaler Bauhäuser vor dem Hintergrund der kritischen Diskussion ziemlich allein auf weiter Flur gefühlt. Bis auf einmal, für alle vollkommen unerwartet, die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen von einem europäischen Bauhaus sprach. Zwar in einem etwas anderen Kontext, aber immerhin. Die Idee, neue Bauhäuser zu gründen, ist vielleicht doch nicht so abwegig.
Wir haben den Impuls von Frau von der Leyen zum Anlass für eine intensive Diskussionsrunde genommen. Unser Fazit daraus ist, dass wir mit Blick auf die Digitalisierung genau an der gleichen Stelle stehen, wie das Gestaltungswesen vor der Gründung des Bauhaues. Wir spüren an vielen Stellen ein nahezu gestörtes Verhältnis zur Digitalisierung. Es scheint für mich nur zwei Extreme zu geben: die Verweigerer und die Enthusiasten. Dazwischen ist wenig Raum. Genauso denke ich, dass die heutigen Gestalter*innen gar nicht oder nur unzureichend mit Blick auf die neuen technischen und gesellschaftlichen Herausforderungen ausgebildet werden.
Es geht also gar nicht um einen neuen Bauhausstil oder das Heraufbeschwören vermeintlicher Gestaltungsideale, die mit dem Bauhaus verbunden werden. Der Bezug zur heutigen Zeit geht viel tiefer. Die heutigen Herausforderungen sind vergleichbar, wenn nicht sogar größer, als die Herausforderungen vor 100 Jahren. Wir müssen daher am gleichen Punkt ansetzen, wie die Bauhäusler damals.
Digital braucht Gestaltung und Ingenieurswesen
Die Grundidee des Bauhauses, dass Gestalter*innen die Materialien und den grundsätzlichen Herstellungsprozess beherrschen, reicht für die Digitalisierung nicht. Unsere Idee vom Digitalen Bauhaus ist nicht nur eine Hochschule für Gestaltung, sondern eine Hochschule für Gestaltung und Ingenieurwesen der Digitalisierung. Warum beides? Weil Digital sich als Material anders verhält, als andere Materialien mit denen wir heute arbeiten. Zudem brauchen wir neue Professionen, die sich diesem Material verschreiben. Insbesondere die Entwicklung von Software als wesentlicher Teil der Digitalisierung bringt andere Herausforderungen mit sich und zeigt andere Wirkmechanismen auf, als es bei der Entwicklung von industriellen Massenprodukten der Fall ist.
Einen zentralen Aspekt möchte ich exemplarisch herausgreifen: Im Gegensatz zu einem Massenprodukt, lässt sich Software während des gesamten Entstehungsprozesses in allen Facetten anpassen und verändern. Wir sind es sogar gewohnt, dass vermeintlich fertige Software fortlaufend durch Updates angepasst wird. Diese besondere Eigenschaft von Software unterscheidet die Digitalisierung von allen anderen Prozessen, die wir bisher kennen und bedingt, dass Gestalter*innen und Ingenieur*innen kontinuierlich zusammenarbeiten müssen. Was läge daher näher, als beide gemeinsam auszubilden, um so ein starkes Fundament für eine spätere Zusammenarbeit zu legen?
Bauen, Material und Entwürfe: Drei Fächer als Basis
Damit die Idee greifbarer wird, muss sie konkreter werden. Wie kann ein neues Digitales Bauhaus aussehen und konkreter, wie sieht ein Studium an einem solchen Bauhaus aus? Zunächst braucht es eine gemeinsame Basis beider Disziplinen. Inspiriert durch das Bauhaus nenne ich sie: Baulehre, Materialkunde und Entwurfslehre:
- Baulehre: Im Kern des Bauhauses standen der Bau und das Bauen. Genauso steht im Zentrum eines Digitalen Bauhauses der Bau digitaler Lösungen oder Systeme. Digitale Gestalter*innen und Ingenieur*innen müssen den Bauprozess digitaler Lösungen in seiner Gänze begreifen. Nur so können sie ihren Platz im Prozess verstehen und auch die Komplexität beherrschen, die im Digitalen steckt.
- Materialkunde: Digitale Materialkunde klingt schon als Begriff wie ein Widerspruch. Aber genau das ist er nicht. Unser Verhältnis zur Digitalisierung ist durch ihre vermeintliche Abstraktheit geprägt. Diese Abstraktheit ist aber eine Illusion, denn Digital kann durchaus als Material verstanden werden und dann wird es gestalt- und formbar. Das Wissen um seine Fähigkeiten und Grenzen ist von größter Bedeutung, denn nur mit diesem Wissen können die Potenziale der Digitalisierung wirklich ausgeschöpft werden.
- Entwurfslehre: Entwürfe sind Denkwerkzeuge für Ideen, genauso wie Noten ein Musikstück, oder ein Bauplan ein Gebäude beschreiben. Die Techniken des Entwurfes, das heißt Beschreibungsmittel, Pläne oder Konzepte für Form, Funktion und Qualität digitaler Lösungen sind daher grundlegende Werkzeuge. Am Entwurf müssen vielfältige Fragestellungen der Digitalisierung diskutiert werden, beispielsweise Fragen des Nutzens, des Mehrwerts, aber auch des Datenschutzes, der Ethik und der Notwendigkeit.
Durch das gemeinsame Studium dieser Fächer erhalten Gestalter*innen und Ingenieur*innen eine starke Basis für die Zusammenarbeit. Denn beide arbeiten gemeinsam im Bauprozess und müssen über die Entwürfe und die eingesetzten Materialien diskutieren und kommunizieren.
Nun aber zu den Spezifika: Gestalter*innen der Digitalisierung studieren neben den gemeinsamen Fächern die Gestaltungslehre. Sie betrachtet die vielfältigen Ebenen der Gestaltung digitaler Lösungen, angefangen bei der detaillierten Nutzerinteraktion bis hinauf zu den komplexen Strukturen digitaler Ökosysteme. Darüber hinaus gehören Methoden und Techniken sowie Qualitäten der Gestaltung auf den Lehrplan.
Ingenieur*innen der Digitalisierung studieren neben den gemeinsamen Fächern Konstruktions- und Realisierungslehre. Konstruktionslehre befasst sich mit den verschiedenen Ebenen der Konstruktion digitaler Lösungen. Angefangen bei einzelnen Softwarebestandteilen bis hin zur technischen Struktur digitaler Systeme und Netzwerke. Darüber hinaus sollen Methoden und Techniken, sowie Qualitäten der Konstruktion gelehrt werden. Realisierungslehre umfasst das Programmieren von Software, aber auch den Umgang mit Endgeräten. Im Vordergrund stehen dabei nicht Programmiersprachen, sondern die Methoden und Techniken, sowie Qualitäten der Realisierung.
Das Bauhaus als Blaupause
Am Bauhaus haben Meister*innen ihrer Fächer eine neue Generation an Gestaltern *innen hervorgebracht. Für deren Produkte und Gebäude ist Deutschland in der ganzen Welt berühmt. Das Bauhaus ist jedoch mehr als ein historisches Erbe. Seine Ideen und Ideale sind aktueller denn je und bieten uns eine Blaupause für ein neues Hochschulmodell der Digitalisierung. Die Zeit drängt und ich hoffe, dass viele Menschen unsere Idee aufgreifen und in Deutschland und ganz Europa Hochschulen für Gestaltung und Ingenieurwesen der Digitalisierung gründen.
Vita
Dr. Kim Lauenroth ist einer der Autoren des Bitkom Digital-Design-Manifests und Lenkungsausschussvorsitzender für den Kompetenzbereich Software des Bitkom. Beim IT-Dienstleister adesso leitet er das Competence Center Requirements Engineering.
Weitere Informationen unter:
https://www.digital-design-manifest.de/