Die TREND-REPORT-Redaktion sprach mit Harald Neidhardt, CEO & Curator, Futur/io – European Institute of Exponential Technologies & Desirable Futures. über die die Innovationslandschaft in Europa und das Potential von Moonshot Thinking.

Herr Neidhardt, was verstehen Sie unter Moonshots bzw. Moonshot Thinking?

Der erste „Moonshot” ist durch eine Rede von John F. Kennedy initiiert worden: „Wir wollen uns der Aufgabe stellen, in diesem Jahrzehnt zum Mond zu fliegen und die anderen Dinge zu tun, nicht weil sie leicht sind sondern weil sie schwer sind“. Angetrieben durch seine Vision wurden neue Unternehmen gegründet, Innovationen freigesetzt und neue Kooperationen geschlossen.

Genau aus diesem Prinzip entspringt das „Moonshot Thinking“. Es ist eine Methode, die Führungskräfte dabei unterstützt, sich in interdisziplinären Teams großen Herausforderungen zu stellen und neue Visionen zu konzipieren, die begeistern und den Kompass für Innovationen in eher 10 Jahresschritten antizipieren.

Es gibt gewisse Leitlinien, an die man sich halten kann, wenn man ein Projekt zu einem Moonshot machen möchte:

  • Eine höheres Ideal: Die Entwicklung einer Idee, die über den Unternehmenshorizont hinaus geht und einen positiven Einfluss auf möglichst viele Menschen hat
  • Der Einsatz einer sprunginnovativen Technologie
  • Ein vorgegebenes Umsatzpotential (das sich z.B. an dem zehnfachen Wert des momentanen Unternehmenswert orientiert)
  • Das Schaffen sozialer Verbesserungen, vereinbar mit den UN-Nachhaltigkeitszielen
  • Eine möglichst große Gruppe an Menschen ist durch die Idee/ das Produkt betroffen, was über die normale „Zielgruppendenke“ hinausgeht.

Sie sind Gründer von Futur/io, dem „European Institute for Exponential Technologies and Desirable Futures“. Was verstehen Sie unter Desirable Futures?

Wenn wir über die Zukunft nachdenken, wünschen wir uns eine positive und wünschenswerte Zukunft. Das sind aber explizit auch verschiedene Zukünfte, denn es gibt so viele verschiedene Träume, Hoffnungen, Lebensentwürfe und -umstände. Ein Leben in Unsicherheit macht krank und beschwört Spannungen zwischen Kulturen, Gesellschaften und Individuen herauf. Menschen streben nach Zugang zu Bildung, Wasser, Elektrizität, Gesundheitsfürsorge, Internet, Obdach und Entertainment. Wir sind soziale Wesen und wollen uns sicher wissen in unsere Gesellschaft – egal, wo wir auf der Erde leben. Im Jahre 2015 haben die Vereinten Nationen die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung geschaffen – ein wahrer Meilenstein! Sie beschreiben Themen, die wir dringend angehen müssen als globale Gemeinschaft. Die globale Teilhabe durch die Erfüllung dieser Ziele oder wenigstens eine deutliche Annäherung halten wir für eine wünschens- und lebenswerte Zukunft. Unsere Träume und Vorstellungskraft ist oft inspiriert durch Geschichten in Büchern oder Filmen. Wir wünschen uns mehr positives Storytelling, jenseits von Black Mirror (Netflix) oder Bladerunner im Kino damit wir neue Ideen zeigen, die dann Entwickler und kreative Köpfe inspirieren neue Services und Produkte für diese Zukünfte zu entwickeln.

Ein paar Beispiele für kreative Filmideen finden sich zum Beispiel unter www.redbullfutur.io – ein internationaler Ideenwettbewerb für junge Talente, für die wir mehr als 1.000 Einsendungen erhalten haben.

Die Gestaltung einer wünschenswerten Zukunft sollte eine Hauptaufgabe der Politik sein.  Haben Sie konkrete Forderungen an die Politik?

BEESENSTEDT, GERMANY – 05 July 2019: MLOVE X (Photo by Dan Taylor – ©Dan Taylor).

Zur Zeit vernehme ich in der deutschen Politik eher Innovationsabstinenz als mutige Rahmenbedingungen, besonders, was die digitale Infrastruktur

angeht. Ich denke zum Beispiel, dass ein großflächiger Ausbau des 5G-Netzes Landflucht verhindern könnte. Eine gut ausgebaute digitale Infrastruktur bietet auch Hidden Champions, kleinen Betrieben oder freischaffenden Kreativen die Möglichkeit, auch außerhalb von Ballungszentren die Chancen, die uns die Industrie 4.0 eröffnet, zu ergreifen. Die deutsche Politik muss die digitale Infrastruktur als globalen Wettbewerbsvorteil sehen – da hinken wir momentan hinterher, auch im Europäischen Vergleich.

Außerdem denke ich, dass der deutschen Politik zum Teil das Bewusstsein für den Umgang mit digitalen Medien fehlt. Insbesondere fehlt das Bewusstsein für den möglichen Einfluss der kommenden exponentiellen Technologien wie Künstliche Intelligenz, NanoTech, BioTech oder Quantum Computing für die Gesellschaft und die Wettbewerbsfähigkeit. Unsere Jugend zeigt in Teilen einen durchaus bewussten Umgang, aber es ist zu vermuten, dass sich die menschlichen Zuneigungen nach Nähe, Wertschätzung und Zugehörigkeit digital ausgehöhlt haben. Wir brauchen teilweise Schutz vor uns selbst – die DSGVO und die Wettbewerbsaufsicht der EU unternimmt die ersten Schritte. Der dänische Botschafter für digitale Konzerne ist ein erstes Beispiel, dass Nationen durchaus einen Beitrag leisten, ihre Bürger zu schützen. Hier müsste noch mehr Bewusstsein in der deutschen Politik erwachen, ansonsten schlittern auch die westlichen Gesellschaften in ein soziales Punktesystem.

Was genau bieten Sie am Futur/io Institute an und an wen richtet sich Ihr Angebot?

Wir bieten zunächst Weiterbildungsprogramme (Executive Education) für Entscheider und Innovationstreiber für den Mittelstand, Hidden Champions oder europäische Konzerne. Die Executive Programme finden an verschiedenen Plätzen in Europa statt, zum Beispiel in Aix en Provence, Venedig, Berlin, Salzburg oder Kopenhagen. Ein besonderes Programm für 2020 richtet sich an junge „High Potentials” und den aktiven Austausch von engagierten, neuen Mitarbeitern und Entscheidern aus den gleichen Unternehmen, die sich entlang der Wertschöpfungskette auch mit Innovationsteams von anderen Unternehmen, Kreativen und Startups austauschen.

Darüber hinaus ist unsere Mission der Aufbau eines europäischen Netzwerkes das sich mit Sprunginnovationen und dem Einfluss auf die Gesellschaft auseinandersetzt. Wir wünschen uns einen aktiveren Dialog zwischen Unternehmen, Wissenschaft und Politik in einem Europäischen Kontext.

Mit wem arbeiten Sie am Futur/io Institute zusammen?

Zu allererst haben wir eine sehr diverse Fakultät an internationalen Sprechern und Workshop-Leitern. Das Curriculum entwickelt sich immer weiter, auch mit Hilfe unserer Partner und dem Feedback der Teilnehmer. Unsere Gründungspartner sind Telefónica Alpha und Deloitte; unsere Premium Partner sind SAP und Henkel X und wir kooperieren mit den locations H-Farm in Venedig und thecamp in Aix en Provence. Wir freuen uns auch über die Unterstützung bei Kooperationen, die wir von Red Bull und smart (Daimler) für tolle Projekte im Bereich desirable Futures erhalten haben.

Wie sehen Sie Deutschland und Europa als Innovationsstandort im internationalen Vergleich aufgestellt? Wo hinken wir hinterher und wo liegen unsere Stärken?

Ich habe die Hoffnung, dass sich ein nachhaltiges Wirtschaften mit der Innovationskraft von Mittelstand und Hidden Champions in Karlsruhe, Manchester oder Kopenhagen verbinden lässt. Das Erkennen der Herausforderung im globalen Kontext ist der erste Schritt – die Umsetzung im Unternehmen ist nicht einfach. Man wird sich auf Widerstände einrichten müssen, denn aller Wandel ist erst einmal eine Gefahr für das Betriebsklima und die Wettbewerbsfähigkeit. Wenn wir aber die Herausforderungen annehmen und Mut zu entschlossenem Handeln haben, dann kann aus den Lösungen gegen den Klimawandel und den Nachhaltigkeitszielen ein Milliardenmarkt entstehen. Wir müssen aufpassen, das wir Schlüsseltechnologien (Robotik, BioTech, Mobilfunk und Automobilbranche) fördern und nicht verkaufen. Europa muss selbstbewusster, schneller und mutiger in Zukunftsbranchen, Weiterbildung und Forschung investieren und idealerweise sich besser synchronisieren statt nationale Alleingänge vorzunehmen. Die „Missionen” der EU sind ein wichtiger Meilenstein für neue Förderprogramme, der gemeinsame digitale Marktplatz muss dringend Realität werden.

Wie wichtig sind Identifikationspersonen wie John F. Kennedy, Steve Jobs oder Elon Musk für die Realisierung der Visionen?

Es gibt drei Punkte, warum Vorbilder nützlich sein können: Zum einen können sie Ideengeber sein. Wir können uns inspirieren lassen. Zweitens können sie uns zeigen, dass etwas möglich ist. Wenn man sieht, jemand hat mal eine Sprunginnovation erfolgreich eingesetzt, dann wissen wir: Das geht. Das können wir auch schaffen. Der dritte Punkt ist, dass Vorbilder auch als Mutmacher wichtig sind, etwas neues, vielleicht radikales zu wagen, was vorher noch nicht da war.

Können Sie uns Beispiele von Moonshots nennen, auf die wir uns in Europa in den nächsten zehn Jahren freuen können?

Die größten Sprunginnovationen wird es sehr wahrscheinlich im Bereich der Künstlichen Intelligenz, der Gen-Forschung und der Robotik geben. Es gibt eine Bandbreite von spannenden Herausforderungen, die noch unglaublich klingen aber großes Potential haben: u.a. Nano-Technologie im Bereich der Krebsbekämpfung, Telemedizin, Autos die sich selbst gehören, Graphene für nachhaltige Baustoffe oder neue Chip- und Batterieherstellung, Biologische Speichermedien, Solar Technik und CO2 Speicherung, emissionsfreie Flüge und Containerschiffe. Keiner kann die konkreten Technologien und ihre Auswirkung vorhersagen, aber eines wissen wir ganz genau, es wird nichts so bleiben, wie es ist, und die Entwicklungen gehen immer schneller. Um so wichtig ist es für uns alle, die technischen, gesellschaftlichen aber auch die ethischen Parameter für die Zukunft zu antizipieren, um die disruptiven Entwicklungen nicht nur wirtschaftlich auszunutzen sondern im Rahmen einer wünschenswerten Zukunft, die die Vorgaben für nachhaltige Entwicklung (SDG) der Vereinten Nationen erfüllt.

Sie haben mit „Moonshots for Europe“ auch ein Buch herausgegeben: Wer sollte es warum lesen?

Zwischen den verschiedenen Untergangsszenarien, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen, liegt ein Europäischer Weg in die Zukunft. In all den Verwerfungen, die wir täglich in den Nachrichten sehen und die uns nachhaltig beschäftigen ist es wichtig, dass wir unsere positive Sicht auf die Zukunft nicht verlieren und weiterhin Visionen schaffen, die uns zeigen, wie eine lebenswerte Welt aussehen kann.

In dem Buch beschreiben namhafte Gastautoren und Mitglieder der Futur/io Fakultät verschiedene Ansätze, wie wir Europäer aktiv eine lebenswerte Zukunft gestalten können. Es ist nachzulesen, warum Europa der ideale Platz ist, um Ideen zu entwickeln, wie innovative Denkprozesse angestoßen werden können, welche Maßnahmen es in Unternehmen erfordert, alte Denkmuster zu durchbrechen und Raum für Innovationen zu schaffen. Das Buch zeigt, dass der Europäische Weg sehr erfolgversprechend ist. Jeder, der daran interessiert ist, sich selbst, sein Unternehmen, Europa oder die Welt auf dem Weg in eine lebenswerte Zukunft zu unterstützen und diese aktiv mitzugestalten, wird spannende Ideen und neue Ansätze dazu finden.

Und: Das Buch ist selbst eine Innovation: wir haben für die Erstausgabe keinen Baum gefällt für die Herstellung! Das “Papier” ist Rockpaper, es besteht aus Kalksteinstaub und wird durch Zuckerrohr zusammengehalten. Fühlt sich an wie Papier ist aber komplett nachhaltig aus den Resten in Steinbrüchen entstanden, dafür ist es auch etwas schwerer in der Haptik. 

Hier finden Sie das Buch bei amazon.  

Über den Interviewpartner

Harald Neidhardt beschäftigt sich leidenschaftlich gern mit der Zukunft von exponentiellen Technologien und ihren Möglichkeiten und Chancen für Gesellschaft, Unternehmen und Unternehmer – besonders in Europa.
Zusammen mit einer Gruppe von Futuristen und Zukunftsforschern, führenden Innovatoren und anderen kreativen Köpfen gründete er 2017 das Lehr- und Forschungsinstitut „Futur/io“, das seinen Schwerpunkt auf exponentiell wachsende Technologien und eine wünschenswerte Zukunft richtet. Das Institut bietet Führungskräftetrainings sowie Firmenseminare an, und führt Zukunftsforschung durch. Partner und Kunden des Instituts sind u.a. Deloitte, SAP, Henkel und die Vereinten Nationen.
Er ist Herausgeber des Fachbuchs “Moonshots for Europe”, das zusammen mit der Fakultät die Mission des Futur/io Institutes beschreibt.
Nach seinem ersten Besuch des „Burning Man“ Festivals im Jahre 2008 gründete der 53-jährige „MLOVE“, ein internationales Netzwerk aus Kreativen und Betreiber von Veranstaltungsreihen und des „Future City Campus“ in Hamburg.
Harald Neidhardt lebt in Hamburg und ist Alumnus der „Singularity University“ und Sprecher auf weltweiten Veranstaltungen, wie TEDx, SXSW, Wired, Next, DMEXCO und Konferenzen für Führungskräfte. Er ist europaweit als Entrepreneur bekannt und hat schon zahlreiche Start Ups erfolgreich gemacht.

CC BY-ND 4.0 DE

 

 

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