Neue Medikamente schneller und günstiger entwickeln mit KI

Hohe Kosten, zahlreiche Misserfolge und jahrzehntelange Entwicklung: Wirkstoffe für neue Medikamente zu finden und auf den Markt zu bringen ist ein aufwendiger Prozess. Großes Potenzial sieht die Pharmaforschung in der Anwendung von Künstlicher Intelligenz (KI). Das Lamarr-Institut für Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz, das Bonn-Aachen International Center for Information Technology (b-it) und das Tübingen Center for Academic Drug Discovery (TüCAD2) der Universität Tübingen haben dafür nun eine Kooperation geschlossen. Die Zusammenarbeit konzentriert sich auf die Entdeckung von Wirkstoffen, die Fehlfunktionen bei Proteinkinasen und somit die Ursache verschiedener Krankheiten behandeln können. Die Wissenschaftler*innen des Lamarr-Instituts und des b-it bringen dabei ihre langjährigen Expertisen in der Datenanalyse und Entwicklung von Computer-Methoden für die Arzneimittelforschung ein, während TüCAD2 als führendes Zentrum für akademische Arzneimittelforschung die Medizinische Chemie und Pharmakologie übernimmt.

Bonn/Tübingen. Der Weg zur Entwicklung neuer Medikamente ist lang, aufwendig und teuer. Von Tausenden neuen potenziellen Wirkstoffen, die in Laboren gefunden und untersucht werden, schafft es nur ein geringer Prozentsatz in klinische Versuche. Mit Glück übersteht eine Substanz alle Tests und kommt – sofern sie den hohen gesetzlichen Anforderungen an die Sicherheit entspricht – als neues Medikament auf den Markt. Bis zur Markteinführung können 10 bis 15 Jahre vergehen, die Kosten bewegen sich dabei nicht selten im Milliardenbereich. Der immense Aufwand für Forschung und Entwicklung stellt eine große Herausforderung für die Pharmaindustrie dar.

Eine neue Ära der Arzneimittelforschung

Künstliche Intelligenz kann hier Abhilfe schaffen und die Entwicklung von Arzneimitteln beschleunigen. Die Wissenschaftler*innen des Bereichs Life Sciences am Lamarr-Institut für Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz und Life Science Informatics am Bonn-Aachen International Center for Information Technology (b-it) sind führend auf dem Gebiet der Datenanalyse und des Maschinellen Lernens (ML) für die Arzneimittelforschung. In einer neuen Kooperation mit dem Tübingen Center for Academic Drug Discovery (TüCAD2) der Universität Tübingen wollen die KI-Expert*innen nun die Wirkstoffforschung von Proteinkinasen auf eine neue Ebene bringen.
„Die Fortschritte in der KI-gestützten Arzneimittelentwicklung versprechen konzeptionell neue Möglichkeiten für eine verbesserte und beschleunigte Medikamentenentwicklung“, sagt Prof. Dr. Jürgen Bajorath, Principal Investigator und Area Chair Life Sciences am Lamarr-Institut und Professor am b-it. „Im Rahmen dieser Initiative bündeln renommierte Partner aus den Bereichen Medikamentenentwicklung und KI ihre Kräfte, um eine neue Ära der akademischen Wirkstoffforschung und -entwicklung zu gestalten“.

Das Team um Prof. Bajorath bringt insbesondere seine Expertise in der Entwicklung von Berechnungsmethoden für die Auffindung von Proteinkinase-Wirkstoffen in die Kooperation ein. Die Entdeckung von Kinase-Wirkstoffen ist ebenfalls ein Schwerpunkt der Forschenden am TüCAD2. Kinasen sind Enzyme und erfüllen im Körper die Aufgabe, zelluläre Signalwege zu regulieren. Proteinkinasen im Speziellen spielen eine Rolle in der Signalübertragung und Kontrolle verschiedenster zellulärer Prozesse. Funktionieren diese Enzyme nicht richtig, können schwere Krankheiten wie Krebs, neurologische Störungen oder Autoimmunerkrankungen entstehen.

Das macht die Proteinkinase-Wirkstoffe zu einem vielversprechenden Ziel in der Arzneimittelforschung. Als führendes Zentrum für akademische Arzneimittelforschung und Entwicklung in Deutschland kann TüCAD2 bereits eine herausragende Erfolgsbilanz vorweisen: So sind unter Leitung von Prof. Dr. Stefan A. Laufer seit der Gründung im Jahr 2012 insgesamt fünf Wirkstoffkandidaten zur Erstanwendung am Menschen gebracht worden. „Damit sind diese Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten in Tübingen und Bonn in hohem Maße komplementär und stellen eine einzigartige Gelegenheit für eine Allianz zwischen den beiden führenden akademischen Zentren dar“, sagt Laufer.

Trianguläre KI entscheidend für Akzeptanz und Qualität

Von der Suche nach potenziellen Wirkstoffkandidaten und wirksameren Medikamentenmolekülen über die Sicherheitsbewertung bis hin zur Durchführung von klinischen Tests – in nahezu allen Phasen kann Künstliche Intelligenz die Arzneimittelforschung unterstützen und effizienter gestalten. Insbesondere in den Lebenswissenschaften wie Medizin und Pharmazie ist es jedoch besonders wichtig, dass die Funktionsweisen hinter den Verfahren des Maschinellen Lernens für alle transparent und verständlich sind. Deshalb setzen die Forschenden am Lamarr-Institut und b-it auf „Erklärbare KI“, die nicht nur mit biowissenschaftlichen Daten trainiert wird, sondern auch zusätzliches Wissen und Kontextinformationen aus verschiedenen lebenswissenschaftlichen Bereichen nutzt. „Warum trifft die Künstliche Intelligenz eine bestimmte Vorhersage? Damit wir in den Life Sciences das Potenzial von KI ausschöpfen können, muss sie für ein interdisziplinäres Publikum verständlich sein. Andernfalls gehen der Einsatz und die Akzeptanz nicht über die Theorie hinaus“, sagt Bajorath. „Zudem ist das Konzept der Triangulären KI – also die Verbindung von Daten mit einem spezifischen Kontext und interdisziplinärem Wissen – entscheidend für die Qualität der Vorhersagen.“

Während Datenanalyse und Maschinelles Lernen am Lamarr-Institut und b-it in Bonn stattfinden, werden Wirkstoffsynthese, Pharmakologie und biologische Tests am TüCAD2 in Tübingen durchgeführt. Als Datengrundlage dient den Wissenschaftler*innen einerseits die TüKIC-Bibliothek, die derzeit größte akademische Sammlung von Proteinkinase-Inhibitoren (PKI) mit ca. 12.000 PKIs und 1 Million Aktivitätsdaten, sowie eine Sammlung von ca. 156.000 PKIs aus öffentlichen Quellen, die am Lamarr-Institut kuratiert wird und derzeit mehr als 80 Prozent aller menschlichen Kinasen abdeckt.

Bonn-Aachen International Center for Information Technology (b-it)
Das Bonn-Aachen International Center for Information Technology (b-it) ist eine der führenden europäischen Einrichtungen für Spitzenforschung und Hochschulbildung in der Informatik. Wir gestalten die digitale Transformation im Austausch mit Wirtschaft und Gesellschaft und fokussieren auf Data Science und deren Anwendungsbereiche Medien, Life Sciences und Autonome Systeme.

Das b-it wird von vier renommierten Hochschulen und Forschungseinrichtungen, nämlich der Universität Bonn, der RWTH Aachen, der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und der Fraunhofer-Gesellschaft, gemeinsam getragen und von der b-it Stiftung und weiteren Drittmittelgebern finanziert.

Das b-it bietet ein hochselektives internationales Masterprogramm in Informatik und angewandter IT an. Viele Kurse in diesen Programmen konzentrieren sich auf Aspekte der modernen Datenwissenschaft und bereiten die Studierenden auf Karrieren in der Industrie und in der Wissenschaft vor. Die Kurse werden in englischer Sprache und auf höchstem internationalem Niveau unterrichtet und werden von praktischen Laborarbeiten an den beteiligten Fraunhofer-Instituten begleitet.
Mehr Informationen: https://www.b-it-center.de/

Tübingen Center for Academic Drug Discovery (TüCAD2)
Das Tübingen Center for Academic Drug Discovery (TüCAD2) wurde als akademisches Arzneimittel-forschungszentrum mit dem Ziel der Translation gegründet. Seit 2016 ist es Mitglied im internationalen Academic Drug Discovery Consortium (ad2c) und seit 2019 in der Plattform 1 (Klinische Entwicklung) Teil der Exzellenzstrategie der Universität Tübingen. Das TüCAD2 ist integraler Bestandteil des Exzellenzclusters iFIT (Image-guided and Functionally Instructed Tumor Therapies) und bildet die Schnittstelle zur Translation zum 2024 gegründeten Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen-Tübingen-Stuttgart-Ulm (NCT-SW).
Mehr Informationen: https://uni-tuebingen.de/exzellenzstrategie/forschung/plattformen/personalisierte-medizin/tuecad2/