Versteht der deutsche Mittelstand nur „Bahnhof“ beim Thema Digitalisierung?

Ein Kommentar von Raimund Schlotmann, Geschäftsführer der PROCAD GmbH & Co. KG  

Die abstrakte Abgehobenheit, mit der das Thema behandelt wird, und die fehlende Denkart vom Geschäftsmodell her sind Hauptursachen für die Schwierigkeiten des Mittelstands mit der Digitalisierung.

Hängt der deutsche Mittelstand beim Thema Digitalisierung international tatsächlich weit zurück und ist insgesamt viel zu langsam bei der Veränderung? Dazu gibt es so viele Meinungen wie Studien am Markt. In seinen Gesprächen mit mittelständischen Maschinen- und Anlagenbauern stellt PROCAD in der Tat oft fest: Der Unterschied zwischen digitaler Consumer- und Unternehmenswelt wird immer größer. Zuhause werden die Virtual-Reality-Brillen getestet, im Betrieb wartet der Service Techniker seine Anlagen noch per Papierskizze.

Internet of Things, Big Data und Cloud Computing – wer bei diesen Buzzwords der Digitalisierung (ohne welche die disruptive Innovation offensichtlich nicht auskommt) zunächst nur Bahnhof versteht, ist in guter Gesellschaft. Allzu viele „Experten“ verhandeln die Begriffe in ihren Vorträgen in einer abstrakten Abgehobenheit, die es dem Mittelständler schwermacht zu verstehen: Wie kann ich dies in meine betriebliche Praxis transferieren? Wie soll ich konkret starten? Denn genau so – konkret – sind die Informationen dann doch nicht heruntergebrochen. Schließlich geht es um das große Ganze.
Eine der klassischen deutschen Sekundärtugenden, die Gründlichkeit, kommt dem Mittelstand beim Thema Digitalisierung hier in die Quere. Der Ingenieur möchte erst einmal genau durchdringen, wie das mit Hosting, Cloud und Internet-of-Things genau funktioniert. Erst dann kommt die Überlegung, wie daraus ein Geschäft oder Produkt zu kreieren wäre.

Dieses Vorgehen gehört vom Kopf auf die Füße gestellt: Erst das Geschäftsmodell finden und sich dann der Technologien bedienen, die zur Verfügung stehen. Diese Technologien werden mehr und mehr zum Commodity, d.h. zum allgemein verfügbaren Standard und stehen z.B. auch aus der Cloud kostengünstig zur Verfügung.

Disruptive Innovation findet über das Geschäftsmodell statt

Die Digitalisierung verlangt es von Mittelständlern aus dem technologischen Umfeld, ebenso innovativ zu sein wie ein Start-up – und dies parallel zum etablierten Geschäftsbetrieb. Vielen fällt dieser Spagat noch schwer. Deutsche Ingenieur/innen wissen, wie man Technologien verfeinert und bis zur Weltspitze weitertreibt. Die derzeitige Digitalisierung verlangt ihnen aber mehr ab. Wer als Etablierter auf bloße technologische Weiterentwicklung setzt, läuft Gefahr, von einem bis gestern noch völlig Unbekannten überrollt (oder disrupiert) zu werden. Die digitalen Geschäftsansätze haben das Potenzial, traditionelle Modelle komplett umzustrukturieren oder gar zu zerschlagen, und dies in einem Tempo, das wir uns bislang nicht hätten träumen lassen. Die Herausforderung ist dabei nicht in erster Linie die Technologie, sondern die massive und schnelle Änderung der Regeln, unter denen das Geschäft betrieben wird.
Disruptive Innovation findet über das Geschäftsmodell statt und nicht mehr vornehmlich über technologische Differenzierung. Darin liegt für deutsche Mittelständler im Maschinen- und Anlagenbau oder anderen Branchen die zentrale Herausforderung bei der Digitalisierung.

Raimund Schlotmann, Geschäftsführer der PROCAD GmbH & Co. KG, hat das Buch „Digitalisierung auf mittelständisch“ im Springer Vieweg Verlag veröffentlicht.

Zweigleisig fahren

Start-ups und andere Innovatoren der Digitalisierung können unbeschwert von „Altlasten“ an eine Sache herangehen. Sie sind von Natur aus motiviert und keiner Bedrohung ausgesetzt (stellen sie vielmehr selbst dar). In Geschwindigkeit und Kreativität sind sie dem im Tagesgeschäft verhafteten Unternehmen ohne Zweifel voraus. Dieses steht vor der Aufgabe, sein bestehendes Modell weiterlaufen zu lassen, um Innovationen wirtschaftlich abzusichern. Etablierte Unternehmen können nicht mal eben alles hinter sich lassen und mit voller Kraft an neuen Ideen arbeiten. Gleichzeitig muss das Modell transferiert werden. Es heißt daher, zweigleisig zu fahren.

Wie funktioniert Self Disruption aus voller Fahrt? Wie kann man unbelastet von existierenden Verpflichtungen dynamisch und mit gleichem Enthusiasmus wie ein Silicon-Valley-Start-up neue Wege sondieren? Einen Königsweg gibt es dafür nicht. Es gilt, unter Einsatz der eigenen Assets d.h. seiner heutigen Erfolgsbasis zu agieren und gleichzeitig selbst disruptiv zu handeln und sein Geschäftsmodell neu zu denken. Nur dann agiert man, anstatt vielleicht sogar ängstlich auf vermeintliche Bedrohungen von außen zu reagieren. Daran unterscheidet sich, wer mit der digitalen Transformation nach oben schwimmt oder mit ihr untergeht.

Das Internet als funktionale Basis

Der deutsche Mittelstand kann diesen Weg selbstverständlich mitgehen. Und zwar genau unter Zuhilfenahme der neuen technologischen Möglichkeiten. In der Vergangenheit war es so, dass bestimmte technologische Sprünge nur mit einem für den Mittelstand nicht zu bewältigenden Investment möglich waren. Durch die Digitalisierung stehen nun Technologien cloudbasiert, kostengünstig und nahezu beliebig skalierbar zur Verfügung. Das Internet hat die funktionale Basis geschaffen, auf der durch die Digitalisierung wirkliche disruptive Innovationen möglich sind.

Jedes Unternehmen kann die Digitalisierung und den technischen Fortschritt nutzen, um selbst neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, zusätzliche Absatzkanäle zu erschließen und die Online- mit der Offline-Welt zu verbinden, kurz: die digitale Transformation nach eigenem Gusto zu gestalten und sich selbst disruptiv zu verhalten. Vor diesem Hintergrund müssen sich Mittelständler aus dem technologischen Umfeld keinesfalls verrückt machen lassen. Sondern sie sollten die neuen Möglichkeiten für sich nutzen. Rational und gleichzeitig mit der nötigen Portion Kreativität und Wagemut. Digitalisierung im Maschinenbau, Anlagenbau und anderen Branchen ist nichts, von dem man nur Bahnhof verstehen muss.

Über den Autor:

Raimund Schlotmann ist Geschäftsführer der PROCAD GmbH & Co. KG. In seinem neuen Buch Digitalisierung auf mittelständisch (Verlag Springer Vieweg) gibt er eine praxisnahe Hilfestellung für die Digitalisierung im Maschinenbau, Anlagenbau und anderen Branchen. Er erläutert, wie man die neuen Möglichkeiten entzaubert und praktisch umsetzt – getreu dem Motto „Verstehen. Entzaubern. Machen.“ www.procad.de/digitalisierung

CC BY-SA 4.0 DE

 
 
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