Resilient Digital Twin
Gastbeitrag von Prof. Wil van der Aalst
Digital Twin: Die moderne Zeitmaschine für Änderungsprozesse
Resilienz – ein Stichwort, ohne das man in der heutigen Zeit kaum auskommt. Disruptionen in Produktion und Lieferketten entstanden nicht nur aufgrund der Covid19-Pandemie. Auch die Flutkatastrophen im Juli 2021 oder aktuelle Entwicklungen in der Politik stellen Unternehmen immer wieder vor neue Herausforderungen. Die meisten Prognosemodelle versagen bei solch plötzlichen und einschneidenden Veränderungen, ungeachtet der bereits vorhandenen Datenmenge. Wie also gelingt es Unternehmen, ihre Prozesse anpassungsfähiger zu gestalten?
Die Möglichkeiten der digitalen Simulation
Dank der Fülle an Daten und ausgefeilten Algorithmen, über die wir heutzutage verfügen, gewinnen künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen (ML) immer mehr an Bedeutung. KI oder ML kann außerordentlich gut mit unstrukturierten Daten in Text-, Bild- oder Videoform arbeiten, solange es genügend Trainingsdaten gibt. Unvorhergesehene Ereignisse wie die Covid-19-Pandemie, Naturkatastrophen oder die Blockade des Suezkanals vergangenes Jahr zeigen jedoch, dass Algorithmen mit Disruptionen meist nichts anfangen können. Es fehlt ihnen an Kreativität, Anpassungsfähigkeit, Einfühlungsvermögen sowie schlicht und einfach an gesundem Menschenverstand.
Genau diese Eigenschaften sind jedoch in Krisenzeiten unerlässlich. Datengesteuerte Algorithmen tun sich schwer damit, kontextbezogene Informationen und Datenpunkte, die außerhalb der Skala liegen, zu verarbeiten. So konnten Engpässe in Lieferketten entstehen und beispielsweise die Verknappung von Toilettenpapier zu Beginn der Pandemie verursachen. Ein Teufelskreis, denn gerade disruptive Zeiten benötigen verlässliche Daten und Modelle. Digital Twins sind hierbei ein wichtiger Schritt: Laut Gartner handelt es sich dabei um die digitale Darstellung einer realen Einheit oder eines realen Systems. Somit entsteht ein Softwareobjekt, das entweder ein physisches Objekt, einen Prozess oder eine gesamte Organisation widerspiegelt. Zudem können Daten aus mehreren digitalen Zwillingen für eine zusammengesetzte Ansicht über eine Reihe von realen Einheiten und die damit verbundenen Prozesse aggregiert werden.
Der Unterschied zwischen einem digitalen Modell, einem digitalen Schatten, einem Digital Twin und einem resilienten Digital Twin, der mit einer Störung konfrontiert ist. Quelle: Celonis
Digitale Abbildungen eines Objekts oder Prozesses treten in den verschiedensten Formen auf. So gibt es das digitale Modell, das manuell erstellt wird und offline agiert, das heißt es reagiert nicht auf Änderungen in der Realität. Ein digitaler Schatten geht hier einen Schritt weiter: automatisch abgeleitet, ändert er sich selbst gemäß der Realität. Dennoch fehlt es hier an der automatisierten Feedback-Schleife in Echtzeit: So führen die gewonnenen Erkenntnisse nicht automatisch zu Veränderungen im realen Prozess oder Objekt, sondern müssen erst manuell eingepflegt werden. Um diesen letzten Schritt ebenfalls zu automatisieren, gibt es die Lösung des Digital Twins. Seine Ergebnisse wirken sich direkt auf die Realität aus: Sieht das Simulationsmodell eines Produktionsprozesses beispielsweise eine Verzögerung voraus, wird dieser automatisch neu konfiguriert. Zuletzt stellt der Resilient Digital Twin die Königsklasse der digitalen Abbildungen dar: Er nutzt Hybrid Intelligence und kombiniert somit menschliche und Maschinenintelligenz.
Neue Herausforderung: Der digitale Zwilling einer Organisation
Die Idee eines digitalen Zwillings ist verlockend: In einer virtuellen Welt können alle möglichen Entscheidungen bewertet werden – ohne dabei Schäden oder Kosten zu verursachen. Erste Beispiele der Digital Twins waren noch relativ einfach gehalten und konzentrierten sich auf einzelne physische Gegenstände wie etwa einen Flugzeugflügel. Heute kommen jedoch auch komplizierte Lösungen in Betracht, wie Beispiele aus der Luftfahrt, Industrie 4.0 oder dem Gesundheitswesen beweisen. Die nächste Generation digitaler Zwillinge ist sogar dazu in der Lage, die reale Welt von Unternehmen und ihrer Funktionsweise zu simulieren. Die Geburtsstunde des digitalen Zwillings einer Organisation (DTO).
Gartner definiert diesen „Digital Twin of an Organization“ (DTO) als ein dynamisches Softwaremodell, das sich auf betriebliche und/oder andere Daten stützt, um zu verstehen, wie eine Organisation ihr Geschäftsmodell umsetzt, auf Veränderungen reagiert, Ressourcen einsetzt und somit einen außergewöhnlichen Kundennutzen liefert. In der Theorie klingt dieses Vorhaben erst einmal einfach, in der Realität ist es jedoch mit einigen Herausforderungen verbunden: Die Grenzen einer Organisation – und damit auch eines DTO – sind nicht klar abgesteckt: Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten beeinflussen die gemeinsamen Prozesse.
Darüber hinaus ist das menschliche und organisatorische Verhalten irrational und ändert sich im Laufe der Zeit durch Vorschriften, soziale Interaktionen oder auch persönliche Vorlieben. Dass sich ein DTO genauso verhält wie eine reale Organisation, ist demnach zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht realisierbar. Die zugrunde liegenden einzelnen Prozesse kann ein DTO jedoch abbilden, um später auf ein Gesamtbild schließen zu können – die Frage ist nur, wie?
„Der Resilient Digital Twin stellt die Königsklasse der digitalen Abbildungen dar: Er nutzt Hybrid Intelligence und kombiniert somit menschliche und Maschinenintelligenz.“
Prof. Wil van der Aalst
‘Planning and Simulation’ – so funktioniert’s
Process Mining dient hier als konkrete Technologie zur Erstellung eines DTOs. Mit Hilfe der Daten aus cloudbasierten Anwendungen kann die Software End-to-End-Prozesse und Automatisierungsabläufe rekonstruieren. Unternehmen sind nun dazu in der Lage, die Funktionsweise ihrer Prozesse tatsächlich zu verstehen und beispielsweise Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Abteilungen oder Partnern leichter zu erkennen. Mit Process Mining ist es demnach relativ einfach, einen digitalen Schatten zu erstellen – konkrete Verbesserungsvorschläge liefert die Methode zunächst jedoch nicht.
Für einen digitalen Zwilling einer Organisation liefert handlungsorientiertes Process Mining die ersten Schritte: Das Celonis Execution Management System (EMS) löst beispielsweise korrigierende Workflows aus. Auf der Grundlage von Process-Mining-Ergebnissen gelingt so die Planung automatischer Interventionen, die für einen DTO notwendig sind. Nur die tatsächliche Umsetzung liegt noch beim Menschen selbst.
Process Simulation, wie sie beispielsweise von Celonis angeboten wird, hilft bei dem Vorhaben, einen digitalen Twin einer Organisation zu erschaffen. Das System sammelt alle notwendigen Daten eines Prozesses und identifiziert automatisch Komponenten wie die Größe der involvierten Teams oder wieviel Zeit ein Vorgang jeweils benötigt. So entsteht ein Softwaremodell, mit welchem man nicht nur jedes beliebige „Was-wäre-wenn“-Szenario erstellen, sondern auch dessen Auswirkungen darstellen kann – sozusagen eine Zeitmaschine für einen Änderungsprozess. Mit der Celonis Process Simulation können Unternehmen demnach Änderungen in ihren Prozessen vornehmen, mit der Gewissheit mögliche Ergebnisse im Voraus zu kennen, da sie diese ja bereits durchgespielt haben.
Mit Prozess-Simulation Ressourcen einsparen
Wie sieht dieser Vorgang nun in der Realität aus und für welche Aufgaben und Bereiche eignet sich diese Methode? Eine Bank aus Europa konnte durch die Erstellung eines Digital Twins Schwachstellen in ihrem Kreditvergabe-Prozess identifizieren und ausbessern – und zwar nicht nur im Hier und Jetzt, sondern auch im Hinblick auf zukünftige potenzielle Ineffizienzen.
Bei der Kreditvergabe handelt es sich um einen komplexen Prozess mit vielen Variationen, Geschäftsregeln und Interventionen, was eine große Unsicherheit und schwere Planbarkeit mit sich bringt. Für die Automatisierung einer zuvor manuell durchgeführten Aktion konnten durch den Vergleich des Ist-Prozesses mit dem simulierten Szenario die finanziellen Auswirkungen berechnet werden. Darüber hinaus gewann das Unternehmen einen Einblick in die frei gewordenen Ressourcen.
So stellt die Bank nun sicher, dass keine unbeabsichtigten Folgen oder Engpässe durch die Automatisierung von Prozessen oder Neuzuweisung von Ressourcen entstehen. Rund 3 Euro pro automatisierte Aktivität können von jetzt an eingespart werden, was bei 60.000 betroffenen Prozessinstanzen zu einer Einsparung von rund 180.000 Euro im Jahr allein bei diesem einen Prozess führt.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass mit Hilfe von Process Mining und EMS die Simulation einzelner Prozesse möglich ist. In einer Organisation interagieren und konkurrieren jedoch mehrere Prozesse gleichzeitig um Ressourcen. Zu dieser Komplexität kommt die Interaktion verschiedenster Objekte wie Kunden, Aufträge, Maschinen oder Produkte hinzu. Aufgrund dieser Prozessinterdependenzen reicht es also für einen digitalen Zwilling einer Organisation nicht aus, jeweils einzelne Prozesse isoliert zu betrachten.
Man kann sich das ähnlich vorstellen, wie bei der Entwicklung des autonomen Fahrens. Auch die Idee des selbstfahrenden Autos wurde nicht umgesetzt, indem man von Level 0, bei dem der Fahrer ganz ohne Unterstützung durch Assistenzsysteme am Steuer sitzt, sofort zu Level 5, bei dem selbst das Lenkrad im Auto optional ist, übergegangen wäre. Die verschiedenen Zwischenstufen, bei welchen menschliches Eingreifen schrittweise abgebaut werden, müssen zuerst erreicht werden.
Begonnen hat die Entwicklung jedoch bereits und ermöglicht Unternehmen schon heute, ihre Resilienz und Performance zu verbessern. Auch wenn Stufe 5, also vollständig autonome und resiliente Digital Twins, zum jetzigen Zeitpunkt noch mehr Vision als Realität sind, schreitet ihre Entwicklung rasant voran und ihre Praxistauglichkeit ist nur noch eine Frage der Zeit.
So können Unternehmen, die ihre Action Workflows auf der Grundlage von Erkenntnissen durch Process Mining optimieren, bereits zum jetzigen Zeitpunkt Level 1 bis 2 erreichen. Es ist davon auszugehen, dass sich in etwa fünf Jahren viele Organisationen schon auf Level 2 und 3 bewegen werden.
Über den Autor:
Prof. Wil van der Aalst, Informatikprofessor an der RWTH Aachen und Chief Scientist von Celonis
Wil van der Aalst ist Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Process and Data Science an der RWTH Aachen. Er ist bekannt als der “Gründungsvater von Process Mining”. Als Vordenker, Autor und Redner auf den Gebieten Data Science, Geschäftsprozessmanagement und Process Mining ist Wil einer der meistzitierten Informatiker der Welt.