Der digitale Zwilling oder die erweiterte Realität (Augmented Reality, AR) werden in der Industriewelt schon länger diskutiert. Doch wie können diese Technologien die digitale Transformation in Unternehmen unterstützen oder sogar beschleunigen? Markus Hannen, Technical Sales Vice President bei PTC erklärt im Interview, wie beides eingesetzt werden kann und was es dazu braucht.

Herr Hannen, was genau ist ein digitaler Zwilling und wie profitieren Unternehmen von ihm?

Gut, dass Sie danach fragen – der Digital Twin wird heute oft zitiert, aber vielfach gehen die Definitionen hier auseinander oder sind unklar. Ein digitaler Zwilling ist eine speziell entwickelte digitale Repräsentation einer Maschine aus der Produktionsstraße oder eines Produkts, beispielsweise eines Autos oder einer Handkreissäge, die alle mit ihrem realen Pendant verbunden sind. Er besteht aus zwei Komponenten: einer digitalen, funktionalen Definition und einer physischen Erfahrung, einschließlich Umgebungsbedingungen und Leistungsdaten. Wir reden somit von der Konvergenz von physischer und digitaler Technologie.

Eine digitale Aufzeichnung des realen Verhaltens dieser Maschine oder dieses Produkts bietet beispielsweise eine hervorragende Möglichkeit, die Produkteigenschaften für die Zukunft kundengerechter zu gestalten oder dessen Qualität zu steigern. Dank der Analyse von Objekten in Bezug auf ihre tatsächliche Nutzung in der realen Welt mit Hilfe von IoT-Daten können Hersteller fundierter Entscheidungen treffen sowie Ressourcen intelligenter und effizienter miteinander vernetzen. Deshalb kann auch ein nicht zu unterschätzender ökologischer Beitrag erwirtschaftet werden. Die Möglichkeit zur Rückverfolgbarkeit über den gesamten Produktlebenszyklus hilft zudem, Sicherheitsvorschriften und gesetzlichen Auflagen leichter zu erfüllen.

Wie lassen sich solche digitalen Zwillinge erschaffen?

Bevor Hersteller einen digitalen Zwilling nutzen können, empfiehlt es sich, einen systemorientierten, vernetzten Entwicklungsprozess zu realisieren und zu verstehen, wie sie ihre Daten orchestrieren und sinnvoll nutzen können. Dazu zählen die Organisation von bereits verfügbaren Produktdaten in eine digitale Produktdefinition, auch digitale Produktakte genannt, die Definition von Ende zu Ende gedachten Prozessen zur Erfassung der benötigten Datenströme sowie die Sicherstellung eines digitalen Threads über den gesamten Lebenszyklus für eine vollständige Rückverfolgbarkeit.

Welche weiteren Einsatzmöglichkeiten neben der digitalen Produktlebenszyklus-Betrachtung gibt es für digitale Zwillinge?

AR ist hier als Ergänzung zu IoT-Konzepten eine äußerst sinnvolle Option, da beide Bereiche wie füreinander geschaffen sind: Die IoT-Technologie ist über Sensoren und integrierten Systemen in der Lage, Daten aus der realen Welt in die digitale Welt zu bringen und über digitale Zwillinge den Zustand oder die Leistung von Geräten, Maschinen oder Anlagen zu analysieren und verständlich zu machen. Die AR-Technologie ermöglicht es, die Erkenntnisse aus Messung und Analyse zurück in die reale Welt zu bringen und diese damit im entsprechenden Kontext zu überlagern.

Somit messen Sie AR eine hohe Bedeutung bei?

Definitiv. Industrieunternehmen stehen heute vor einem wachsenden Fachkräftemangel, hoher Fluktuation, immer komplexeren Produkten und einem stets hohen Wettbewerbsdruck in einer sich permanent veränderten Situation. Augmented und Mixed Reality (AR/MR) können helfen, diese Herausforderungen zu bewältigen und die Effizienz der Belegschaft zu steigern, indem sie Informationen liefern, wann und wo sie am dringendsten benötigt werden: im realen Kontext der täglichen Arbeitsumgebung.

Es geht hier zum Beispiel um die Frage, wie wir Menschen helfen können, auf Augenhöhe mit voranschreitender Automatisierung, Digitalisierung und Komplexität weiterhin Herr der Lage zu sein und einen sinnvollen, produktiven Job wahrzunehmen. Wie wir Daten reibungsloser in den Arbeitsalltag der Mitarbeiter integrieren. Wenn sie heute mit einem PC oder Handy interagieren, müssen sie immer zwischen dem abstrahieren, was sie gerade tun und der Art, wie sie Daten konsumieren. Sie müssen quasi selbst übersetzen.

Wenn ich mir jetzt einen Servicetechniker im Feld vorstelle, der vielleicht noch recht neu ist und einen komplexen Job zu erledigen hat, ist diese Arbeitsweise nicht effizient. Er verliert Zeit, Daten zu suchen und mit der Maschinenapplikation zu hantieren. Hier hilft Augmented Reality, indem sie diese Abstraktion nimmt. Sie stellt Daten im Arbeitsablauf kontextabhängig und abhängig vom realen Umfeld dar. So ist unserer Auffassung nach die digitale Transformation über alle Glieder in der Kette abbildbar, also über Menschen, Produkte und Unternehmensprozesse.

Mit modernen AR-Plattformen lassen sich aus den vorhandenen Produkt- und Systemdaten sowie aus IoT-Echtzeitdaten aus dem Feld schnell und einfach eigene AR-Anwendungen kreieren.

Wie weit ist die Industrie, solche Anwendungen zu integrieren?

Noch beobachten wir oft einfache, wenig datenlastige Use Cases mit Standardgeräten. Viele Unternehmen nehmen sich zuerst Use Cases mit geringem Integrationsaufwand vor, die für sich genommen schon einen Wert schaffen. Die Entwicklung hin zu komplexen datenintensiven Projekten zeichnet sich jedoch bereits ab. Mit den jüngsten Produktentwicklungen im AR-Bereich wird sich das sicher beschleunigen. Beispielsweise ist es möglich, Kollegen, Servicetechniker oder weitere Experten aus der Ferne einzuladen, an der jeweiligen physischen Umgebung teilzuhaben. Sie können interagieren, zum Beispiel, um Arbeitsschritte zu kommentieren oder anzuleiten.

Wann kommt der Punkt, ab dem der Servicetechniker so selbstverständlich sein Virtual- und Augmented-Reality-Equipment einsetzt, wie seine Kollegen im Büro die Software zur Textverarbeitung?

Wir sehen, dass sich viele Unternehmen bereits intensiv mit Augmented Reality beschäftigen. Viele Anwendungen sind schon produktiv. Während die Datenverfügbarkeit und die Software einer flächendeckenden Verbreitung schon länger nicht mehr im Wege stehen, zieht nun langsam auch die Hardware nach. Apple und Microsoft wirken hier sicher als Beschleuniger, aber es gibt auch viele wertvolle Nischenanbieter.

Welche weiteren Grundlagen braucht es für AR?

Die Inhalte sind entscheidend und hier kommen die Unternehmen meist selbst ins Spiel. Wie nutzen diese ihre (größtenteils schon) vorhandenen Produkt-, Kunden- oder Prozessdaten aus den CAD-, PLM-, ERP-, MES- oder CRM-Systemen sowie die von IoT-Plattformen bereitgestellten Sensordaten? Vor zehn Jahren noch wäre das ein immenser Integrationsaufwand gewesen. Heutzutage ist weder ein eigenes Entwicklerteam notwendig, noch gibt es einen grundlegenden Programmier-Bedarf. Mit modernen AR-Plattformen lassen sich aus den vorhandenen Produkt- und Systemdaten sowie aus IoT-Echtzeitdaten aus dem Feld schnell und einfach eigene AR-Anwendungen kreieren. Die Mitarbeiter arbeiten mit intuitiven Drag-and-Drop-Funktionen und erlernen es erfahrungsgemäß in nur wenigen Tagen, ohne Vorerfahrungen oder Programmierkenntnisse besitzen zu müssen. Jetzt ist die Innovationsfreude und Wandelbereitschaft der Industrie gefordert.

Unser Autor

Markus Hannen, Technical Sales Vice President bei PTC

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