„Corona war ein Startschuss“
Corona ist auch eine Chance, sich und sein Unternehmen neu zu denken. Dazu sprach die TREND-REPORT-Redaktion mit Prof. Dr. Volker Gruhn, Aufsichtsratsvorsitzender der adesso SE.
Herr Prof. Gruhn, wenn der Shutdown im Frühjahr eine Art Pause war: Haben die Unternehmen in Deutschland diese genutzt? Was sind Ihre Erfahrungen?
Für die meisten Unternehmen war Corona nicht der Beginn einer Pause, sondern ein Startschuss. Der Shutdown im März mit seinen weitreichenden Konsequenzen zwang uns allen von heute auf morgen andere Prozesse und Arbeitsweisen auf. Es galt, zu improvisieren, auszuprobieren, alte Zöpfe abzuschneiden. Unternehmen lassen sich nicht über einen Kamm scheren, es knirschte hier und da ziemlich laut. Aber in Summe funktionierte es.
Der Druck, sich zu verändern, war und ist groß. Und daraus entstand ein Wille, sich zu verändern. Zu Beginn diktierte das Notwendige das Handeln. Als sich erste Erfolge einstellten, weckte das die Lust am Experimentieren. Diese Lust ist in Unternehmen immer noch zu spüren. Die Folge: In den letzten Monaten bewegte sich rund um das Thema Digitalisierung mehr als in den letzten Jahren. Das betrifft technische Themen sowie auch die Einstellung. Die Pandemie führt uns allen vor Augen: Wer Prozesse digitalisiert, wer Werkzeuge für das verteilte Arbeiten nutzt, wer in die digitalen Fertigkeiten seiner Beschäftigten investiert, kommt besser durch die Krise. Die Situation zeigt die Schwachstellen auf. Haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von außen keinen vernünftigen Zugriff auf Dateien, muss ich nicht über verteiltes Arbeiten nachdenken. Brauche ich für jede Freigabe vier Unterschriften auf einem Blatt Papier, werde ich den Prozess kaum digitalisieren können. An solchen Schwachstellen arbeiten unsere Kunden konsequent.
Wo sehen Sie aktuell die größten Aufgaben für Unternehmen?
Wenn es schnell gehen muss, bleiben die Detailfragen auf der Strecke. In der ersten, akuten Phase war das Ziel, die Unternehmen am Laufen zu halten. Jetzt gilt es, Aktivitäten zu bewerten und bei Bedarf zu justieren. Nicht, um exzessive Regelwerke und Hürden aufzubauen. Sondern um in der nächsten kritischen Situation von den Erfahrungen profitieren zu können. Viele Verantwortliche, mit denen ich spreche, befinden sich mit ihren Unternehmen in genau dieser Situation. Ziel ist es, die spontanen Aktivitäten einzelner Abteilungen oder Bereiche in durchgängige, übergreifende Prozesse zu überführen. Wenn das Marketing Anfang April auf den Cloud-Anbieter A und der Vertrieb auf B setzte, hatten diese Entscheidungen damals ihre Berechtigung. Projekte mussten weiterlaufen, Teams weiter zusammenarbeiten. Aus Sicht des Unternehmens ist es jetzt sinnvoll, wenn beide mit der gleichen Infrastruktur arbeiten. Und der Service und Logistik gleich mit dazu.
Eine Aufgabe, die Fingerspitzengefühl erfordert. Auf der einen Seite dürfen die Verantwortlichen die eingangs beschriebene Dynamik nicht durch Vorgaben ersticken. Auf der anderen Seite braucht es Verlässlichkeit und Durchgängigkeit in Prozessen. In vielen Unternehmen führen die Beteiligten momentan rund um diese Fragen Diskussionen.
Wie sehen Sie dabei die Rolle Ihres Unternehmens?
Wir sitzen im gleichen Boot wie unsere Kunden. Auch wir rangen und ringen darum, welche Form der Zusammenarbeit in welcher Projektsituation richtig ist. Wie viele Unternehmen standen wir vor der Situation, dass laufende Projekte unter veränderten Vorzeichen funktionieren müssen. Und dass wir parallel dazu unter neuen Rahmenbedingungen neue Projekte auf- und umsetzen. In der Realität zeigt sich schnell, welche Ideen und Ansätze funktionieren. So sammelten wir innerhalb kurzer Zeit einige Erfahrungen darüber, welche Art von Aufgaben in welcher Form von Zusammenarbeit und Verteilung der Beteiligten wie digital unterstützt werden können. Daraus ergeben sich keine festen Vorschriften, aber eine Reihe von Konzepten und Ansätzen zur Ausgestaltung digitaler Zusammenarbeit. Unsere Kunden, die vor vergleichbaren Aufgaben stehen, profitieren von unseren Erfahrungen.
Hinzu kommt, dass wir einiges an Know-how über digitale Arbeitsumgebungen mitbringen. Wir haben – auch getrieben durch die Vielzahl der Projekte mit Kunden – vieles an Werkzeugen und Verfahren kennen-, aber nur manches lieben gelernt. Das Wissen teilen wir gerne.
Wo sehen bei der Ausgestaltung neuer Arbeitsformen Einsatzpotenziale für Technologien wie KI?
KI eröffnet, wie jede Basistechnologie, ein Spektrum an Einsatzmöglichkeiten. Das reicht von der Automatisierung in der Sachbearbeitung bis hin zum Schaffen neuer Geschäftsmodelle. Entsprechend dieser Möglichkeiten unterstützen KI-Anwendungen Unternehmen beim Anpassen an die Post-Corona-Welt. Beispiele lassen sich in der Arbeitsumgebung einzelner Beschäftigter finden: Kollaborationsplattformen bieten Echtzeituntertitel für Videokonferenzen an und erleichtern die Zusammenarbeit. Noch sind die Ergebnisse eher lustig als hilfreich. Aber das galt vor ein paar Jahren auch noch für automatisch übersetzte Texte. Ein anderes Beispiel ist ein Projekt, an dem das AI Research Lab von NVIDIA arbeitet. Die Fachleute entwickeln eine Technologie, die die benötigte Bandbreite für Videoanrufe auf einen Bruchteil reduziert. Statt des Videobildes einer Person überträgt die Anwendung die Daten eines fotorealistischen Avatars. Dieser Avatar übernimmt Bewegung und Mimik perfekt. Das Ergebnis ist von dem Video der realen Person nicht zu unterscheiden. Dieses Verfahren erweitert die Möglichkeit, Videokonferenzen einzusetzen. Solche und ähnliche Einsatzszenarien für KI lassen sich für viele Aspekte der Zusammenarbeit denken.
Digitalisierung beschränkt sich allerdings nicht auf Videokonferenzen und das gemeinsame Bearbeiten von Dokumenten. Moderne Systeme und datenbasierte Anwendungen helfen Unternehmen dabei, statt fragiler globaler Lieferketten stabile, lokale Prozesse aufzubauen – und die Kosten trotzdem im Griff zu behalten. Ob IT-gestützte Automatisierung, Künstliche Intelligenz in der Lagerhaltung, hochgradig personalisierte Produktion: All das ist heute schon möglich. Ich bin davon überzeugt, dass ‚digital statt global‘ eines der Themen der nächsten Jahre wird.
Liegt der Schlüssel für zukünftige Erfolge vielleicht mehr in der Zusammenarbeit von Unternehmen? Gemeinsame Nutzung und Generierung von Daten, gemeinsames Engineering…
An dieser Stelle prallen zwei Fronten aufeinander: Einerseits KI-Anwendungen, die bessere Ergebnisse liefern, je breiter die Datenbasis ist. Das spricht für die Kooperation über Unternehmensgrenzen hinaus. Die Predictive-Maintenance-Anwendung des Herstellers einer Schleifmaschine trifft genauere Vorhersagen, wenn ihm alle seine Kunden ihre Produktionsdaten zur Verfügung stellen. Andererseits haben die Verantwortlichen ein verständliches Interesse daran, dass sensible Daten ihr Unternehmen nicht verlassen. Beispielsweise weil rechtliche Rahmenbedingungen dies verbieten. Oder weil in den Daten geschäftskritische Informationen stecken. Es gibt Ansätze, dieses Dilemma aufzulösen. Einen verfolgen wir aktuell im Kontext der Betrugserkennung in Banken.
Jedes Finanzinstitut muss Überweisungen auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen, beispielsweise um Geldwäsche zu unterbinden oder Embargovorgaben einzuhalten. In diesen Prüfverfahren spielen KI-Anwendungen eine wichtige Rolle. Diese Systeme verbessern sich im laufenden Einsatz permanent. Würden alle Banken die Daten dieser Anwendungen teilen – was nicht möglich ist –, könnten sie Betrugsmuster schneller identifizieren. Um dies zu umgehen, arbeiten wir an einer Gesamtlösung, bei der Systeme der beteiligten Banken nicht Datensätze, sondern ihren Lernfortschritt austauschen. Also den Erkenntnisgewinn, den sie durch neue Prüfungen erarbeiteten. Auf diesem Wege profitieren alle vom KI-Einsatz.
Weitere Informationen unter:
www.adesso.de