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Digital Health formt das Gesundheitswesen der Zukunft
Mit etwa 100 Nanometern im Durchmesser ist das Anfang 2020 entdeckte Virus „Sars-Cov-2” nur unter einem leistungsstarken Elektronenmikroskop sichtbar. Aber seit seinem ersten Auftreten in Wuhan/China hat das Virus sich rasant auf der ganzen Welt verbreitet, über 10 Millionen Menschen infiziert, mehr als 505.000 Menschenleben gefordert (Stand 29. Juni 2020) und der Weltwirtschaft großen Schaden zugefügt. Eine große Rolle bei der Eindämmung der Infektionen spielt eine tagesgenaue Datenanalyse, die entsprechenden Kurven und Grafiken waren in allen Nachrichtensendungen präsent und der Hashtag #flattenthecurve hat auch mathematischen Laien die Folgen einer exponentiellen Verbreitung verständlich gemacht. Die Digitalisierung hat den Gesundheitssektor erreicht – aber das gesamte Potential lässt sich immer noch nur erahnen.
Heute ist das Gesundheitswesen in den meisten Ländern noch weitestgehend das, was die Amerikaner ein „Bricks and Mortal”-Business nennen, also übertragen gesagt „Stein auf Stein” gebaut. Die verschiedenen Services sind nur unzureichend aufeinander abgestimmt und die gesundheitlichen Anforderungen stehen nicht durchgängig im Fokus der Aktivitäten. Das Potential durch Digitalisierung ist vor allem deshalb so unglaublich groß, weil die Nutzung digitaler Services heute noch so wenig ausgeprägt ist. Der Gesundheitssektor hinkt vielen anderen Industriezweigen deutlich hinterher.
Laut einem Bericht von WHO und Weltbank hat heute etwa die Hälfte der Weltbevölkerung keinen Zugang zu einem funktionierenden Gesundheitssystem.
Die weltweite Mittelklasse wächst jedoch rasant und immer mehr Menschen verlangen Zugang zu ausgebildeten Ärzten und Krankenhäusern, und das nicht nur in pandemieähnlichen Situationen. Es wird aber nicht möglich sein, in relativ kurzer Zeit genügend Ärzte und Pfleger auszubilden, damit das System dem Ansturm von Millionen oder gar Milliarden zusätzlicher Patienten gewachsen ist. Nur mit den Mitteln der Digitalisierung wird ein solches Wachstum zu handhaben sein. Das Potential ist hier riesig, der Fortschritt aktuell aber noch sehr überschaubar. Wie könnte ein neues, digitales Gesundheitswesen aussehen?
Die Vorstellung, digitale Technologien aus dem 21. Jahrhundert an ein vorhandenes, starres System aus dem 20. Jahrhundert anzudocken und direkt auf die Segnungen der Digitalisierung zu spekulieren, führt unweigerlich zu Konflikten.
Strenge Regulierung
Weltweit ist das Gesundheitswesen sehr stark reguliert und hat strenge Qualitätsanforderungen. Sensible, private Daten werden genauso durch Vorschriften geregelt wie die Zahl der Ärzte und ihre Ausbildung. Es wird exakt definiert, welche Tätigkeiten das Pflegepersonal ausführen darf und wann ein examinierter Arzt eingreifen muss. Die Vorstellung, digitale Technologien aus dem 21. Jahrhundert an ein vorhandenes, starres System aus dem 20. Jahrhundert anzudocken und direkt auf die Segnungen der Digitalisierung zu spekulieren, führt unweigerlich zu Konflikten. Der Hauptgrund für diese Konflikte liegt darin begründet, dass die Daten im Gesundheitssystem in Silos vorliegen. Da gibt es elektronische Patientenakten, in der Radiologie gespeicherte Daten, Informationssysteme in Laboratorien und viele mehr, die nicht oder nur unzureichend miteinander verbunden sind und sich daher moderne Analyse- oder Machine-Learning-Werkzeuge nicht zunutze machen können.
Darüber hinaus sind Patienten heute weniger abhängig vom Fachwissen der Ärzte, da sie sich via Internet informieren und dabei auch Fachdatenbanken nutzen können. Zahlreiche entwickelte Volkswirtschaften gehen hier noch einen Schritt weiter, indem sie in ihrem Gesundheitswesen elektronische Patientenakten nutzen. Einige Länder, etwa die Niederlande, gehen noch weiter und ermöglichen den Patienten den Zugriff auf die Unterlagen oder sogar Interaktionen in Form eigener Beobachtungen und Anmerkungen. Zahlreiche Krankenkassen bieten ebenfalls digitale Services an oder offerieren besonders günstige Tarife im Austausch mit Gesundheits- oder Wellnessdaten, etwa von Fitnesstrackern.
Die Technik kann Ärzte noch viel stärker unterstützen, als dies heute bereits der Fall ist. So kann KI etwa „einfache“ Diagnosen bereits heute stellen. Bei Gewebeerkrankungen kann sie Ärzte auf krankhafte Areale und Veränderungen aufmerksam machen. Bildquelle: iStockFoto / Nikada
Vorbilder in den Entwicklungsländern
Interessanterweise finden sich viele Beispiele für die Digitalisierung im Gesundheitswesen heute in Entwicklungsländern, zum Teil sicherlich aus der Not geboren, aber auch aufgrund der Tatsache, dass auf vorhandene Strukturen oft wenig Rücksicht genommen werden muss.
Ein Beispiel ist Indonesien. Das Land besteht aus rund 15.000 Inseln und hat laut Wikipedia 264 Millionen Einwohner. Für die gab es 2009 im ganzen Land 2.600 registrierte Geburtshelfer bei einem seitens des Gesundheitsministeriums geschätzten Bedarf von 35.000 (Quelle: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK201699 /). Die Kinder- und Müttersterblichkeit ist daher sehr hoch. Um zu helfen, hat die Medizinsparte von Philips einen Rucksack mit einigen Diagnosegeräten zusammengestellt, den eine Hebamme leicht zwischen den Inseln transportieren und auch in entlegenen Dörfern zum Einsatz bringen kann. Jeroen Tas, Chief Strategy & Innovation Officer, von Philips hat dieses Projekt auf dem Weltwirtschaftsforum 2020 vorgestellt (das Panel finden Sie auf YouTube). Im Gepäck befindet sich unter anderem ein Doppler, ein einfaches Ultraschallgerät, sowie ein Fragebogen. Angehende Mütter können Sprechstunden vor Ort besuchen, die Ergebnisse der Untersuchung werden in die Cloud geladen und ad hoc durch eine künstliche Intelligenz analysiert. Falls ein Problem erkannt wird, wird das Ergebnis an einen spezialisierten Geburtshelfer weitergeleitet, der dann direkt Empfehlungen zur Behandlung oder Medikation an die Hebamme vor Ort gibt. Dieses System ist hoch skalierbar, die Technologie erlaubt es einem Geburtshelfer, an einem Tag hunderte von Fällen zu begutachten. Darüber hinaus werden viele harmlose Fälle direkt durch die KI beantwortet und entlasten das System spürbar. Nach dem erfolgreichen Start in Indonesien kommt das System jetzt unter anderem auch im Kongo in Zentralafrika zum Einsatz.
Gesundheitsdaten müssen geschützt werden
Ein Thema, das insbesondere in den entwickelten Ländern im Mittelpunkt der Diskussion steht, ist der Schutz der Gesundheitsdaten. Ein Konstrukt wie beispielsweise in Indien, wo die Daten jedes Bürgers in einer Cloud gespeichert und mit einer zwölfstelligen ID („Aadhaar”) verknüpft werden, ist in Europa undenkbar und wäre auch datenschutzrechtlich nicht umsetzbar. Wer ein Passwort verliert, hat ein Problem. Wer aber seine biometrischen Daten, also Iris- oder Gesichtsscan, Fingerabdrücke usw. im Darknet wiederfindet, hat ein ungleich größeres Problem, weil diese Marker unveränderbar sind. Nicht von ungefähr wird für Gesundheitsinformationen auf dem schwarzen Markt heute hundertmal mehr bezahlt als für Finanzinformationen. Hinzu kommt eine weitere Herausforderung: Wenn Daten einmal öffentlich sind, lassen sie sich praktisch nicht wieder zurückholen.
Theoretisch steht heute die Technologie zur Verfügung, um das Gesundheitswesen komplett in die Cloud zu migrieren.
Theoretisch steht heute die Technologie zur Verfügung, um das Gesundheitswesen komplett in die Cloud zu migrieren. Allerdings fehlt bislang das Vertrauen in die Technik. Ärzte, Krankenschwestern und das gesamte Gesundheitssystem haben sich seit mehr als hundert Jahren das Vertrauen der Patienten erarbeitet und verdient.
Betrieb und Verwaltung trennen
Ein möglicher Ansatz beim Aufbau moderner IT-Infrastrukturplattformen könnte eine Trennung zwischen der Technologie an sich und der eigentlichen Verwaltung der Daten sein, also eine Art Treuhändermodell. Hier würde die Infrastruktur nach vorgegebenen Sicherheits- und Servicestandards von privaten Firmen aufgebaut und betrieben werden. Der Zugriff auf die Daten würde jedoch nur durch autorisierte Stellen erfolgen. Eine Voraussetzung dazu wäre ein Standard für Gesundheitsdaten, um den Austausch zwischen unterschiedlichen Systemen zu gewährleisten. Ein möglicher Kandidat wäre FHIR (für „Fast Healthcare Interoperability Resources”) von der HL7-Gruppe, den zahlreiche Konzerne im Gesundheitssektor bereits unterstützen.
Ein weiterer Punkt: Daten sind nicht gleich Daten. Wenn Gesundheitsdaten einem Individuum zugeordnet werden können, ist die kommerzielle Nutzung ohne explizites Einverständnis sicherlich nicht zu tolerieren. Wie sieht es aber mit anonymisierten Daten aus? Gerade die Corona-Pandemie hat sehr deutlich gezeigt, wie wichtig die Erfassung und Analyse von Nutzer- und Patientendaten sein kann, um eine weitere Ausbreitung zu verhindern oder zumindest einzudämmen. Dazu zählte nicht nur die Erfassung von Infektionszahlen und Todesfällen, einschließlich der Geodaten. Auch Mobilfunkdaten wurden genutzt, um beispielsweise Menschenansammlungen zu erkennen.
Corona hat gezeigt, wie wichtig die – anonymisierte – Sammlung von Daten ist.
Ein anderes Beispiel sind genetische Daten: Sie versprechen ein enormes Potential, müssen dazu aber idealerweise mit anderen Datensilos, etwa zur Häufung bestimmter Krankenbilder oder gar mit Wellness-Daten, verknüpft werden können. Je kompletter Datenbestände verwendet werden können, desto größer ist ihr Nutzen. Zahlreiche Daten müssen auch durch das System fließen können, um Entwicklungen erkennen und Analysen betreiben zu können – aber nicht zum Nutzen einzelner Unternehmen, sondern für die Allgemeinheit. Aktuell werden laut OECD nur rund drei Prozent der weltweiten Gesundheitskosten zur Vorbeugung von Krankheiten ausgegeben. Digitale Technologien können helfen, die vorhandenen (und begrenzten) Mittel gezielter einzusetzen und Fehler zu verhindern. Das könnte auch dazu beitragen, künftig mehr über Gesundheit und weniger über das Gesundheitswesen an sich zu reden.
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