Wie arbeiten „digitale Stars“?

Fachbeitrag
Autoren: Prof. Dr. Isabell M. Welpe, Andranik Tumasjan, Tom Koschwald

 

Eine Untersuchung von innovativen Organisationsstrukturen und Arbeitsgestaltungsmaßnahmen.

Neue disruptive Technologien verbreiten sich mit immer höherer Geschwindigkeit. Gleichzeitig wird die Welt zunehmend vernetzt. Eine neue Generation, aufgewachsen im Zeitalter der Digitalisierung und oft als „digital natives“ bezeichnet, drängt auf den Arbeitsmarkt. In vielen Branchen tendieren Unternehmen dazu ihren Wettbewerbsvorteil schneller zu verlieren, da bestehende Wettbewerbsvorteile erodieren und neue Player in den Markt kommen. Folgende drei Fähigkeiten sind in diesem wettbewerbsintensiven Marktumfeld entscheidend, um einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen und längerfristig zu halten: die Fähigkeit schnell sowohl disruptive als auch evolutionäre Innovationen hervorzubringen, die Fähigkeit sich schnell an Veränderungen anzupassen und die Fähigkeit, die besten Talente für die die digitale Transformation im Unternehmen zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wie sollten sich Organisationen strukturieren und ihre Arbeit gestalten um ihre Innovationsfähigkeit einerseits und ihre Arbeitgeberattraktivität für die besten Talente andererseits zu erhöhen?

In diesem Beitrag versuchen wir diese Frage zu adressieren, indem wir erfolgreiche Unternehmen der Digitalwirtschaft untersuchen, welche wir als „Digitale Stars“ bezeichnen. Mithilfe einer systematischen Vorgehensweise wurden 181 solcher Unternehmen ausgewählt. Um auch Einblicke in die Umsetzung der Methoden und Praktiken zu bekommen, wurden zudem vier Experten befragt. Wir haben systematisch die Unternehmenspraktiken dieser Unternehmen hinsichtlich Organisationsstrukturen und Arbeitsgestaltung untersucht und stellen diese nachfolgend vor. Zudem geben wir praktische Empfehlungen, wie diese Praktiken in etablierten kleinen und großen Unternehmen eingeführt werden können.

Unternehmen der Digitalwirtschaft sind als Untersuchungsgegenstand aus drei Gründen besonders interessant. Erstens: Viele digitale Unternehmen haben aktiv die digitale Ära geprägt und damit gezeigt, dass sie in einer hochdynamischen und zukunftsorientierten Industrie erfolgreich sein können. Zweitens: Die digitale Transformation betrifft und verändert jede Branche und jede Organisation. Die meisten Unternehmen versuchen aktuell in diesem Bereich Kompetenzen aufbauen. Anhand von Unternehmen der Digitalwirtschaft kann aufgezeigt werden wie Wissensarbeit im Bereich der Internettechnologien am besten organisiert werden kann. Drittens: Es gibt heute bereits (und künftig noch stärker) erhöhten Bedarf an Mitarbeitern mit Fähigkeiten im Bereich Software-Engineering, künstliche Intelligenz, Robotik, Blockchain usw. geben. Somit ist es von besonderer Bedeutung zu verstehen, wie „Digitale Stars“ diese begehrten Arbeitskräfte für sich gewinnen.

Organisationsstruktur

Vor allem in deutschen Unternehmen herrschen überwiegend traditionelle pyramidenförmige Hierarchien vor – nur wenige Unternehmen wenden alternative Ansätze an. Konfrontiert mit steigender Komplexität und einer sich schnell verändernden Umwelt, zeichnet sich gerade bei den Unternehmen der Digitalwirtschaft ein Trend hin zu flacheren Organisationsstrukturen ab. Dieser Trend geht einher mit einer Verschiebung der Grundhaltung gegenüber Mitarbeitern. Anstelle von Kontrolle und Micro-Managing von Mitarbeitern wird die Rolle von Vertrauen in Organisationen immer bedeutender. Führungskräfte werden in Zukunft als Hauptaufgabe haben, den richtigen Kontext vorzugeben, welcher den Mitarbeitern und Teams ermöglicht ihre traditionellen Aufgaben des „Brot- und Buttergeschäfts“ zu erledigen und auch innovative Leistungen zu erbringen.

Bei der Analyse der „Digital Stars“ sehen wir, dass diese Unternehmen Methoden und Praktiken anwenden, welche die Mitarbeiter von den in Organigrammen verankerten formalen Kommunikations- und Berichtsstrukturen befreien. Eine informelle Struktur wird stärker von agilen Projektmanagement Methoden vorgegeben. Im Kern basieren diese Methoden auf kleinen Teams, die sich selbst managen (z.B. bei Spotify). Zudem werden Mitarbeiter systematisch ermutigt, an eigenen Ideen zu arbeiten und sich – in dafür eigens eingerichteten Arbeitszeiten – selbstgesteuert weiterzubilden (z.B. eine neue Programmiersprache zu lernen oder bestehende Kompetenzen auszubauen). Accelerators und Inkubatoren stellen den notwendigen Raum und Ressourcen für vielversprechende und disruptive Innovationen bereit, die von den Mitarbeitern erarbeitet werden. Dies trägt dazu bei, solche Mitarbeiter zu halten, die das Unternehmen verlassen würden, um selbst zu gründen oder zu einem Wettbewerber mit besseren Chancen auf Umsetzung der eigenen Ideen zu wechseln.

Arbeitsgestaltung

Im Bereich der Arbeitsgestaltung stellen viele digitale Unternehme hochflexible, individuelle Arrangements für ihre Mitarbeiter zur Verfügung. Mitarbeiter können beispielsweise entscheiden wo, wann und wie sie arbeiten möchten. Nichtsdestotrotz ist physische Nähe immer noch wichtig. Daher werden Arbeitsumgebungen so gestaltet, dass die Mitarbeiter dort arbeiten möchten – nicht müssen. Die Arbeitsorte sind darauf ausgerichtet Zusammenarbeit und Kommunikation zu erleichtern. Zudem wird Flexibilität und Kommunikation zwischen Mitarbeitern mithilfe von Technologien wie sozialen Medien am Arbeitsplatz und/oder der Möglichkeit sein eigenes Gerät (z.B. Laptop, Smartphone – „bring your own device“) zur Arbeit zu bringen erleichtert. Monotone Arbeiten können bereits jetzt überwiegend mithilfe von Automatisierung eliminiert werden.

Beispiele für radikal andere Ansätze in der Organisation und Mitarbeiterführung: Zappos und Valve
Tony Hsieh ist der Gründer des Online-Händlers Zappos und beschäftigt etwa 1500 Mitarbeiter. Hier wird das Konzept der „Holacracy“ angewandt. Holacracy ist eine innovative soziale Technologie für die Unternehmensführung – ein Ansatz, der authentisch Autorität verteilt und Flexibilität und Selbstorganisation in die Regeln und Prozesse, nach denen sich die Organisation selbst strukturiert und handelt, einbettet.

Die Hauptaufgabe von Führungskräften wird in Zukunft sein, den richtigen Kontext vorzugeben, in denen Mitarbeiter und Teams ihre Aufgaben zu erbringen haben.

Die Valve Corporation, spezialisiert auf die Entwicklung von Videospielen, hat seit der Gründung durch Gabe Newell und Mike Harrington im Jahr 1996 eine flache Organisationsstruktur. Diese Organisationsform ist typisch für Start-Ups oder kleine Teams, jedoch hat Valve diese Struktur vom Start als ein kleines Start-up bis zu der jetzigen Größe von über 300 Mitarbeitern beibehalten.
Diese beiden Ansätze sind radikal anders als bestehende hierarchische Systeme – hierbei ist aber noch lange nicht gezeigt, dass sie auch auf größere Unternehmen skalierbar sind. Es können jedoch sehr wohl Aspekte dieser Konzepte genutzt und adaptiert werden. Aus unserer Untersuchung können wir folgende Empfehlungen für die Organisations- und Arbeitsgestaltung in der digitalen Transformation geben:
Handlungsempfehlungen zur Umsetzung

1. Reflektieren Sie Ihre Startbedingungen
Überprüfen Sie sorgfältig die Größe des Unternehmens, die Organisationskultur, das Commitment der Vorstände und des Managementteams und das strategische Ziel der Organisations- und Arbeitsgestaltung.

2. Starten Sie mit existierenden Frameworks und adaptieren Sie diese für Ihr Unternehmen
Jede Organisation benötigt zu Beginn Starthilfe, Beratung und Sparringspartner. Sobald jedoch ein erster Entwurf steht, sind die meisten Unternehmen sehr gut in der Entwicklung eigener Modelle – binden Sie hierfür v.a. ihre Mitarbeiter ein.

3.  Halten Sie nicht Ausschau nach der „besten“ Organisationsstruktur
Die Veränderungsgeschwindigkeit erhöht sich konstant und wird in Zukunft eher größer als kleiner. Daher sollten sich Unternehmen neben der Frage der aktuell passenden Organisationsstruktur vor allem die Frage stellen: „Wie treffen wir Entscheidungen über strukturelle Änderungen?“

4. Experimentieren Sie!
Es ist nicht möglich alle Parameter und deren Auswirkungen im großen Rahmen vorherzusagen. Vielmehr geht es darum einen Weg zu finden, um schnell auf sich verändernde Rahmenbedingungen zu reagieren: Stichwort Experimentierkultur. Auch in Unternehmen sollte daher zunächst in kleinerem Rahmen ausprobiert werden, ob eine neue Organisationsstruktur oder Arbeitsgestaltungsmaßnahme gut funktioniert, bevor sie im gesamten Unternehmen ausgerollt wird.  Es ist zu empfehlen die „Build-Measure-Learn“-Dynamik aus dem Lean Startup auch in Organisationen zu leben.

5. Top-Management-Commitment ist der Schlüssel zum Change Management
Aus der bisherigen Forschung und Praxis wissen wir: Einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren zur Implementierung von Change-Projekten ist das konsequente Commitment des Top-Managements. Die digitalen Transformation im Unternehmen muss oben beginnen.

Fazit und Ausblick

Jede Organisation hat verschiedene kontextbezogene Faktoren und eine individuelle Organisationskultur. Deshalb sollten die Praktiken der „Digital Stars“ und die abgeleiteten Handlungsempfehlungen nicht als Blaupause verstanden werden, sondern als Inspiration und Startpunkt, um eigene unternehmensspezifische Lösungen zu finden. Wie eingangs erwähnt, befinden sich Unternehmen in unterschiedlichen Industrien im Wettbewerb um dieselben Talente aus dem IT-Bereich. Eine Analyse der Arbeitsgeberbewertungen auf der Plattform Glassdoor zeigt, dass Unternehmen der Digitalwirtschaft häufig unter den Unternehmen mit sehr hohen Gesamtbewertungen zu finden sind, wohingegen dies kaum auf vergleichbare Unternehmen aus anderen Branchen zutrifft. Top-Talente, gerade aus dem hart umkämpften IT-Bereich, können sich ihren Arbeitgeber aussuchen und wählen Unternehmen anhand der Organisationskultur und den gebotenen Arbeitsbedingungen. Unternehmen, die solche Talente gewinnen möchten, um sich für die digitale Transformation aufzustellen, sind also gut beraten ihre Organisations- und Arbeitsmodelle auch im Sinne der Arbeitgeberattraktivität entsprechend zu gestalten.

Kernaussagen
  • Eine informelle Struktur wird stärker von agilen Projektmanagement Methoden vorgegeben. Im Kern basieren diese Methoden auf kleinen Teams, die sich selbst managen.
  • Physische Nähe ist immer noch wichtig. Daher werden Arbeitsumgebungen so gestaltet, dass die Mitarbeiter dort arbeiten möchten – nicht müssen. Die Arbeitsorte sind darauf ausgerichtet Zusammenarbeit und Kommunikation zu erleichtern.
  • Die Veränderungsgeschwindigkeit erhöht sich konstant und wird in Zukunft eher größer als kleiner.

 

 

 

Veröffentlicht Dez. 2016 im Handbuch Digitalisierung

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