Beim Innovationsmanagement geht probieren über studieren. Denn die innovativsten Firmen sind nicht diejenigen, die die eine große Idee haben, sondern diejenigen, die die meisten Ideen haben.
Im 19. und auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das „Ice Harvesting“ ein riesiger Industriezweig in den USA und teilweise auch in Europa. Mutige Männer fuhren mit Pferdeschlitten auf zugefrorene Seen, sägten dort Eisblöcke heraus und transportierten sie in die Städte, wo sie für das Kühlen von Lebensmitteln verwendet wurden (YouTube-Video). Die Erfindung und Verbreitung des Kühlschranks machte dieser Branche dann den Garaus.
Dieses Beispiel zeigt: Disruption ist mitnichten ein Phänomen des digitalen Zeitalters. Es gab sie schon immer, auch wenn der derzeitige Hype um ehemalige Weltmarktführer, die durch digitale Produkte in die Bedeutungslosigkeit gestürzt sind, etwas anderes vermuten lässt. Vor allem Nokia, Kodak oder der Videotheken-Betreiber Blockbuster müssen immer wieder für dieses beliebte Narrativ herhalten.
Eines hat sich allerdings wirklich geändert: die Häufigkeit der Disruption. Und dafür ist in der Tat die Digitalisierung verantwortlich. Das exponentielle Wachstum der digitalen Technologien und die rasant zunehmende Vernetzung ermöglichen heute viel mehr neue Ideen und Kooperationen von Markpartnern, als das in der Vergangenheit der Fall war. Die Wahrscheinlichkeit für Unternehmen, von einer Disruption „erwischt“ zu werden, steigt damit deutlich an.
Dem können sie nur vorbeugen, indem sie Innovationen hervorbringen. Dazu müssen viele von ihnen das Thema Innovationsmanagement aber ganz neu angehen. Mit den herkömmlichen, schwerfälligen und langwierigen Methoden können sie den neuen Herausforderungen nicht mehr gerecht werden. Erst eine Vorstudie erstellen, dann eine Analyse durchführen, dann noch eine Marktbetrachtung erstellen, dann den Business Case durchrechnen, und erst dann wirklich tätig werden: Bei einem solchen Vorgehen, wie es gerade bei uns detail- und planungsverliebten Deutschen oft noch üblich ist, werden Unternehmen heute einfach vom Markt überholt.
Haben Unternehmen die Idee für ein neues Produkt, einen neuen Dienst oder ein neues Geschäftsmodell, sollten sie direkt einen Prototypen entwickeln und in kurzen Feedback-Schleifen sofort von Endanwendern testen lassen.
Carsten Rust, Senior Director Client Innovation EMEA bei Pegasystems
Schnelles und agiles Agieren erforderlich
Gefragt ist stattdessen ein schnelleres und agileres Agieren. Erreichen können Unternehmen das durch einen experimentellen und iterativen Ansatz, wie ihn das „Design Thinking“ fordert, ein spezieller Kreativprozess zur Ideenfindung. Haben Unternehmen die Idee für ein neues Produkt, einen neuen Dienst oder ein neues Geschäftsmodell, sollten sie direkt einen Prototypen entwickeln und in kurzen Feedback-Schleifen sofort von Endanwendern testen lassen. Auf Basis ihrer Rückmeldungen erfolgt dann die Anpassung der weiteren Strategie: entweder, die Idee wird weiterverfolgt und optimiert, oder verworfen und die nächste Idee auf dieselbe Weise erprobt.
Die Erfahrung gibt diesem Ansatz Recht. Sie zeigt nämlich, dass die innovativsten Firmen nicht diejenigen sind, die die eine große Idee haben, sondern diejenigen, die die meisten Ideen haben. Wollen Unternehmen die eine, alles entscheidende Idee finden, müssen sie viele Ideen ausprobieren. Außerdem ist Fakt: Der absolute Großteil der Disruptoren kommt aus zunächst fremden Branchen. So hatte Apple beispielsweise früher mit Telefonen nichts am Hut; genauso wie Google mit selbstfahrenden Autos.
Entscheidend ist deshalb, dass Unternehmen einen Perspektivenwechsel vornehmen und die Endanwender in den Mittelpunkt rücken –das ist eine zentrale Forderung des Design Thinking. Zu viele Unternehmen gehen beim Innovationsmanagement immer noch von sich selbst und davon aus, was sie Stand heute können. Innovationen haben dadurch meist einen evolutionären und keinen disruptiven Charakter. So suchten die Akteure der „Ice Harvesting“-Branche etwa nach schärferen Sägen oder besseren Transportmöglichkeiten. Besser wäre es aber gewesen, sich zu überlegen, was der Kunde eigentlich möchte – nämlich ein kühles Bier.
Und auch die Tests der Prototypen sollte stets mit „echten“ Endanwendern durchgeführt werden. Entwickelt ein Unternehmen beispielsweise den Prototypen einer neuer App, sollte er von Personen getestet werden, für die sie auch gedacht ist, und nicht einfach vom Chef und den Kollegen. Nur dann ist sichergestellt, dass auch wirklich der Mehrwert für die Endkunden im Mittelpunkt steht. Dieser Mehrwert ist es schließlich, der darüber entscheidet, ob eine Idee zum Kühlschrank wird oder vergeht wie Eis in der Sonne.
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