Frank Welge, INVERTO

Industrie 4.0 – Zeit für neue Prioritäten

Gastbeitrag von Frank Welge, Supply-Chain-Management-Spezialist, Unternehmensberater und Partner beim Beratungsunternehmen INVERTO.

 

Studien zeigen: Das Thema Industrie 4.0 erreicht die Praxis, die ersten Hersteller investieren in entsprechende Projekte. Dabei stehen häufig vor allem fertigungs-technische Zusammenhänge im Vordergrund – ein Umstand, der zu Schwierigkeiten führen könnte. Denn die Industrie der Zukunft braucht nicht nur neue Technik, sondern auch neue Managementansätze.

Wenn von Industrie 4.0 die Rede ist, dann geht es meist um „Cyber-Physical Systems“, um das Internet der Dinge oder um die Vernetzung von Maschinen und Werkstücken – sprich, um Fertigungstechnik. Tatsächlich dreht sich die Mehrzahl der Digitalisierungsvorhaben der deutschen Industrie derzeit noch um „fertigungsnahe“ Themen [1]. Das scheint verständlich und wenig überraschend: Schließlich gibt es noch viele technische Fragen zu klären, bevor die Digitalisierung der Industrie weiter vorangetrieben werden kann. Und die meisten Manager industriell geprägter Unternehmen legen von Haus aus den Fokus auf die Produktion. Deshalb kann es auch nicht verwundern, dass deutsche Unternehmen bis zu 40 Milliarden Euro für die Digitalisierung ihrer Fabriken ausgeben wollen[2].

Doch diese Konzentration auf Fertigungsbelange greift zu kurz und ist deshalb riskant. Denn in der Industrie 4.0 geht es nicht nur um neue Produktionstechniken – es geht um eine grundsätzliche Veränderung industrieller Wertschöpfung. Die selbststeuernde Fertigung der Zukunft wird erhebliche Auswirkungen auf Geschäftsmodelle und -abläufe haben, die Komplexität und Geschwindigkeit von Wertschöpfungszusammenhängen wird steigen. Vor allem aber wird sie dazu führen, dass die Unternehmen im Markt auf ganz andere Weise zusammenarbeiten als heute üblich – nämlich in den viel zitierten Wertschöpfungsnetzen, in denen Informationen, Werkstücke, Waren und sogar Maschinen über Unternehmensgrenzen hinweg ausgetauscht und genutzt werden.

Vor allem Letzteres dürfte die Unternehmen dazu zwingen, außer ihrer Fertigung auch ihre Managementansätze zu modernisieren. Deshalb brauchen wir eine Verbreiterung des Industrie-4.0-Diskurses über die Fertigung hinaus. Die Frage, wie die Wertschöpfung der Industrie der Zukunft gesteuert werden soll, muss zeitnah in den Vordergrund treten.

 

Industrie 4.0 braucht neue Managementansätze

Herausforderungen dürften sich dabei vor allem im Bereich des Managements von Wertschöpfungsabläufen nicht innerhalb, sondern außerhalb der eigenen Fertigung ergeben. Die Wertschöpfungstiefe der Unternehmen wird weiter sinken[3], und je weiter sie sinkt, desto wichtiger werden unternehmensübergreifende Zusammenarbeit und Kooperationsprojekte – nicht nur mit Kunden und Geschäftspartnern, sondern auch mit Zulieferern. 80 Prozent der in einer Studie befragten Führungskräfte aus der Industrie rechnen damit, dass derartige Formen der Zusammenarbeit innerhalb der nächsten fünf Jahre erheblich an Bedeutung zunehmen[4].

Sollte dem so sein, wird das Steuern dieser unternehmensübergreifenden Zusammenarbeit zu einer Hauptaufgabe des Managements werden. Um diese erfolgreich bewältigen zu können, brauchen Führungskräfte entsprechende Methoden und Verfahren: Für die Dokumentation über Risikoprofile ebenso wie für den Aufbau und die Optimierung von Schnittstellen für die Zusammenarbeit mit Partnern und Kunden. Auch die gezielte Entwicklung von Zulieferern und deren Innovationsfähigkeit, die regelmäßige Lieferantenbewertung und die Beschreibung von Prozessen gehören dazu.

Für dieses Management werden viele der heute üblichen Ziel- und Messgrößen von begrenztem Nutzen sein. Neben den bekannten Faktoren wie Kosten, Qualität und Lieferleistung kommen künftig Kriterien wie Flexibilität, Geschwindigkeit oder auch IT-System-Kompatibilität hinzu. Auch beim Blick auf die Größe „Kosten“ dürfte es einen neuen Blickwinkel brauchen: In der Industrie 4.0 werden Gesamtkostenbetrachtungen eine erheblich größere Rolle spielen.

 

Vorhandene Werkzeuge nutzen

Viele der Werkzeuge, die Unternehmen für das Bewältigen dieser Herausforderungen brauchen, existieren bereits. Kennzahlen zur bereichsübergreifenden Leistungsmessung etwa, Methoden zur Flexibilisierung von Supply Chains, Software für Big-Data-Analytics und Business Intelligence oder Internet-Plattformen zur „Social Collaboration“ mit Geschäftspartnern.

Führende Unternehmen setzen diese Verfahren teilweise schon ein. Konzerne mit exzellentem SupplyChainManagement – etwa Apple oder BMW – ziehen beim Flexibilisieren von Supply Chains heute schon alle Register und nutzen ganz selbstverständlich Verfahren wie etwa lieferantenverwaltete Läger (Vendor Managed Inventories) 5. Der Flugzeugbauer Boeing verwendet Sensorendaten und Algorithmen, um Reparaturbedarfe an Flugzeugen per Predictive-Analytics vorauszuberechnen6. Und Unternehmen wie GE oder IDEO schaffen Crowd-Sourcing- und Innovationsplattformen im Netz, um Geschäftspartner und Kunden in Entwicklungsvorhaben einzubeziehen7.

Doch noch sind diese Unternehmen Ausnahmen. Zwar investieren einer jüngeren Untersuchung zufolge gut drei Viertel aller deutschen Großunternehmen bereits in Digitalisierungsvorhaben für das eigene SupplyChainManagement. Doch bei den kleineren Unternehmen tut dies gerade mal ein Drittel8. Und nicht wenige der Letztgenannten haben bereits heute damit zu kämpfen, die Kosten, Risiken und Leistungsfähigkeit von Lieferketten und Prozessen zu steuern. Für diese Unternehmen ist es derzeit schon schwer, genauen Einblick in die eigenen Lieferketten zu bekommen oder Zulieferer, Partner und Kunden so in die eigenen Wertschöpfungsprozesse zu integrieren, dass Komplexität und Kosten optimal sind.

Projekte zur Zulieferer-Integration 'in Kinderschuhen'

Projekte zur Zulieferer-Integration ‚in Kinderschuhen‘

Nachholbedarf in Sachen Steuerung

Eine Handvoll Beispiele zeigt, wie es in vielen Unternehmen wirklich aussieht: Rund 42 Prozent der für eine Studie befragten Unternehmen verfügen noch nicht über eine bereichsübergreifende Leistungsmessung für ihre Supply Chain9. Und von den 60 Prozent der Unternehmen, die entsprechende Verbesserungsmaßnahmen einführen, setzen nur 20 Prozent diese auch konsequent um10. Weniger als die Hälfte der befragten Firmen investiert in Verfahren für die Flexibilisierung von Lieferketten und nur knapp 50 Prozent beziehen ihre Kunden in Prozesse zur Bedarfsplanung mit ein10. Kleineren und mittleren Unternehmen fehlt es zudem häufig an der Fähigkeit, modellbasierte Mess- und Steuerungsverfahren einzusetzen. Ohne solche lassen sich komplexe Systeme, wie die Industrie 4.0 sie hervorbringen wird, jedoch kaum steuern.

Von einem „Industrie 4.0-reifen“ Management kann deshalb noch keine Rede sein – und es scheint auch auf absehbare Zeit noch nicht in Sicht. Einer jüngeren Untersuchung von INVERTO zufolge stecken viele Vorhaben zur Lieferanten- oder Kundenintegration in unternehmenseigene Wertschöpfungsabläufe noch in den Kinderschuhen. Diese Zahlen legen den Schluss nahe, dass viele Unternehmen überfordert wären, wenn die „Smarte Fabrik“ demnächst Wirklichkeit würde. Sie sind nach heutigem Stand zu schlecht aufgestellt, um die Komplexität und Geschwindigkeit der notwendigen Prozesse zu beherrschen. Der Mehrzahl der betroffenen Firmen scheint das sogar bewusst zu sein: 129 der 160 für eine Studie befragten Unternehmensvertreter sind der Ansicht, das Weiterentwickeln von „Prozessen und Organisation“ stelle das größte Hindernis auf dem Weg in die Industrie 4.0 dar11. Und in einer weiteren Untersuchung werden die eigenen Zulieferer als zweitstärkste „Bremser“ der Digitalisierung genannt – unmittelbar hinter der unternehmenseigenen IT; vermutlich ein weiterer Hinweis auf die Schwierigkeiten bei Lieferantenintegration und -entwicklung.

 

Fazit

Die Firmen wären deshalb gut beraten, den Handlungsbedarf im Management-Bereich frühzeitig zu bearbeiten. Investitionen in die Fertigung für vernetzte Maschinen und Anlagen, cyber-physische Systeme, Industrie-IT und entsprechende Sicherheitssysteme können nur ein erster Schritt sein. Der zweite muss im Schaffen von neuen Managementansätzen bestehen. Jetzt, wo die ersten Gelder in fertigungsnahe Projekte fließen, wird es Zeit, diesen Schritt in Angriff zu nehmen und neue Prioritäten zu setzen. Denn nur wenn die Unternehmen lernen, die neuen Technologien der Industrie 4.0 gemeinsam und wirtschaftlich zu nutzen, werden sie – und wir alle – von der Weiterentwicklung der Industrieproduktion profitieren.

weitere Informationen:

INVERTO AG

 

Quellenverweise:

[1]Vgl. z.B. IDC (Hrsg.) Industrie 4.0 durchdringt verarbeitendes Gewerbe in Deutschland, Investitionen für 2015 geplant, September 2014, n.l., n.p. (http://bit.ly/115IOxj).

[2] Freitag, Lin: Studie zur Industrie 4.0 – Deutsche Unternehmen wollen 40 Milliarden Euro investieren. In: wiwo.de, 14.10.2014 (http://bit.ly/ZCmE5t).

[3] KPMG (Hrsg.): Sourcing Governance 2030, n.l., S. 9 (http://bit.ly/1oVGlkp).

[4] pwc (Hrsg.): Industrie 4.0 – Chancen und Herausforderungen der vierten industriellen Revolution, n.l., S. 33 (http://pwc.to/1x0SjdX).