Prof. Dr. Peter Kruse

„Das liegt einfach an der Vernetzung“

Wie das Unternehmen Nextpractice gestern mitteilte, ist der führende Netzwerkforscher, Psychologe und Unternehmer Prof. Dr. Peter Kruse am 1. Juni 2015 verstorben. Unsere Redaktion hat Herr Kruse mit dem nachfolgenden Beitrag unterstützt. Schade, einer der führenden Zukunftsforscher wird uns fehlen.

 

Prof. Dr. Peter Kruse ist Zukunftsforscher und Organisationspsychologe an der Universität Bremen. Die TREND REPORT-Redaktion fragte ihn zu den Auswirkungen der Vernetzung und Digitalisierung. Er beschäftigt sich schon seit über zehn Jahren mit der Kommunikation und dem Internet als „Netz der Netze“.

Sie haben bereits vor über zehn Jahren in Ihrem Buch „next practice – Erfolgreiches Management von Instabilität“ prognostiziert, dass wir durch die weltweite Vernetzung mit radikalen Veränderungen konfrontiert werden. Was hat sich seitdem verändert?

Die von Wolfgang Coy als Eintritt in die Turing-Galaxis bezeichnete mediale Verwendung der elektronischen Datenverarbeitung hat in den letzten zwei Jahrzehnten eine gesellschaftliche Veränderung ausgelöst, die durchaus als Revolution bezeichnet werden kann und deren subversive Kraft noch lange nachwirken wird. Medientheoretiker wie Walter Benjamin oder Marshall McLuhan haben schon früh darauf hingewiesen, dass die strukturellen und funktionalen Charakteristiken von Medien deren gesellschaftliche Wirkung mindestens ebenso stark, wenn nicht sogar stärker beeinflussen als die durch sie verbreiteten Inhalte. Mit dem Internet wurde eine völlig neue Viele-zu-Viele-Kommunikation ermöglicht, die Hierarchien aushebelt, Wissensmonopole durchbricht und es möglich macht, selbst aus der entferntesten Nische ins Zentrum des öffentlichen Interesses vorzudringen, Kapital einzusammeln oder sich politisch machtvoll einzumischen. Märkte sind zu Gesprächen und Beteiligungsprozesse zum Volkssport geworden. Die Macht der Netzwerke ist in der Lage, Diktatoren zu stürzen und Minister zum Rücktritt zu bewegen. Kommentare unzufriedener Kunden können sich in Tagen zum Flächenbrand aufschaukeln und die Zentralen internationaler Konzerne erschüttern: kleine Ursache – große Wirkung. Die Internetapplikation WhatsApp, die kostenlose SMS-Versendung ermöglicht, hat den Telefongesellschafften in wenigen Monaten zweistellige Umsatzverluste beigebracht und schon nach fünf Jahren einen Verkaufswert von 15 Milliarden US Dollar gerechtfertigt. Internetapplikationen wie Uber machen aus Privatpersonen Taxiunternehmer und bedrohen im Turbogang lang etablierte Geschäftsmodelle. Im Internet werden in wenigen Jahren Umsatzgrößenordnungen erreicht und private Vermögen angehäuft, für die früher viele Jahrzehnte erforderlich waren. Kein Zweifel, wenn heute von Veränderung die Rede ist, dann geht es um eine völlig neue Dimension des Wandels.

Welche Auswirkungen haben diese Veränderungen auf unsere Wirtschaft? Und müssen wir grundlegend umdenken und uns anders verhalten?

Die Globalisierung und die Entwicklung der neuen Kommunikationstechnologien haben die Lebens- und Überlebensbedingungen für Unternehmen dramatisch geändert. Die schnell wachsende Vernetzungsdichte in den Märkten kommt einem Seebeben gleich, dessen Schockwellen einen Tsunami erzeugt haben, der nichts lässt, wie es ist. Schon 1999 hat das Cluetrain-Manifest darauf hingewiesen, dass sich mit dem Internet die Macht vom Anbieter zum Nachfrager verschiebt. Die Eigendynamik der Netzwerke erhöht die Wahrscheinlichkeit nichtlinearer Effekte. Die Geschwindigkeit der Änderungen im Umfeld der Unternehmen hat in einem Ausmaß zugenommen, das die normalen Planungshorizonte außer Kraft setzt. Es wird immer schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich, langfristige Vorhersagen zu machen. Heute muss niemand den Menschen erklären, dass es erforderlich ist, sich auf die Instabilität von Veränderung einzulassen. Die Komplexität der vernetzten Märkte erzwingt ein Ausmaß der Erhöhung der unternehmensinternen Vernetzung, das Stabilität im Berufsalltag zur Ausnahme werden lässt. Handlungsfähigkeit ist immer weniger eine Frage der Balance von Stabilität und Instabilität auf der Verhaltensebene, sondern zunehmend eine Frage der Fähigkeit, sich angstfrei und neugierig auf unkalkulierbare Marktdynamiken einzulassen. An die Stelle von Planung und Steuerung treten Achtsamkeit und Empathie. Stabile Inseln werden zwar seltener, aber das Erkennen von Strömungsmustern in den wirbelnden Fluten erlaubt dennoch, den Kopf erfolgreich und mit vertretbarem Energieaufwand über Wasser zu halten. Instabilität im Handeln ist drauf und dran zum Dauerzustand zu werden. Früher lag die Kunst der Veränderung in der Gestaltung des Überganges von einer Verhaltensstabilität zur Nächsten. Heute ist es die Kunst, die lebensnotwendige Stabilität vom konkreten Verhalten auf höhere Systemebenen zu verlagern. Es ist nicht verwunderlich, dass das Verständnis und die Gestaltung von Unternehmenskulturen immer mehr als strategisch wichtige Führungsaufgabe akzeptiert wird.

Man hat den Eindruck, dass viele Unternehmen erst heute beginnen, sich mit dem Gedanken grundsätzlicher Neuorientierung auseinanderzusetzen. Womit hängt das zusammen?

Der Aufbruch ins Ungewisse ist für Menschen immer ambivalent. Auf der einen Seite sind wir neugierig und empfinden es als langweilig, wenn sich nichts ändert. Aber auf der anderen Seite lieben wir es, uns an bekannten Ufern zu bewegen, weil wir uns dort sicher fühlen und unseren Energieaufwand gering halten können. Neues zu lernen, ist immer mit Anstrengung und Irritation verbunden. Das Gehirn ist bezogen auf seinen Stoffwechsel ein sehr kostspieliges Körperorgan und Effizienz im Energieverbrauch daher eine Notwendigkeit. Es ist physiologisch sinnvoll, das Aktivitätsniveau des Gehirns möglichst gering zu halten. In Lernprozessen versuchen Menschen solange wie möglich, bereits erworbene Strategien anzuwenden. Das ist keine persönliche Trägheit, sondern ein evolutionäres Erfolgsprinzip. In der Regel lassen wir uns erst auf das Risiko des Neuen ein, wenn sich die bereits gelernten und bewährten Handlungsmuster als unzureichend erweisen oder wenn genug Spielraum für Exploration vorhanden ist. In der elterlich umsorgten Kindheit ist die Lernbereitschaft entsprechend hoch. Je älter wir werden, desto mehr verlassen wir uns auf unsere Erfahrung, weil wir es biologisch müssen und psychologisch können. Was für das individuelle Gehirn gilt, trifft auch für soziale Systeme zu. In Gesellschaft und Unternehmen wird Stabilität über die Aushandlung von Wertvorstellungen gewährleistet, die mit der Zeit Teil eines kollektiven Unbewussten werden. Auch in sozialen Systemen gilt das Effizienzprinzip der möglichst langen Beibehaltung des Bestehenden: keine grundsätzliche Neuorientierung ohne innere Unruhe oder äußere Krise.


 

Zur Person:

Prof. Dr. Peter Kruse

Prof. Dr. Peter Kruse ist Zukunftsforscher und Organisationspsychologie an der Universität Bremen. Er gilt als einer der renommiertesten Forscher, die sich mit der „Macht der Netze“ auseinander setzen.

„Prof. Dr. Peter Kruse ist Gründer und Ideengeber der nextpractice GmbH und Honorarprofessor für Allgemeine und Organisationspsychologie an der Universität Bremen. Zunächst beschäftigte er sich über 15 Jahre als Wissenschaftler auf der Schnittfläche von Neurophysiologie und Experimentalpsychologie mit der Komplexitätsverarbeitung in intelligenten Netzwerken.

Mit einem eigenständigen Change-Management-Ansatz und mitreißenden Impulsvorträgen sorgte er als Berater jahrelang im In- und Ausland für Aufsehen. Aktuell wurde er vom HRM Research Institut auf der Suche nach den 500 Wegbereitern des Human Ressource Managements in Europa unter die ersten 10 gewählt.

Prof. Dr. Peter Kruse beschäftigt sich heute vorrangig mit der Analyse von Veränderungen in Markt und Gesellschaft sowie deren Umsetzung in nachhaltig erfolgreiches unternehmerisches Handeln.“


 

 

Mit welchen Herausforderungen haben Unternehmen zu kämpfen, wenn Sie sich auf eine radikale Veränderung einlassen? Und was bedeuten diese für das Management?

Von radikaler Veränderung sollte man nur sprechen, wenn die Neuorientierung im Unternehmen alle drei relevanten Systemebenen von Strategie, Struktur und Kultur einbezieht. In einer solchen Situation ist der Versuch, den Herausforderungen mit einer Optimierung des Bestehenden zu begegnen, mit großer Wahrscheinlichkeit zum Scheitern verurteilt. Außer, wenn es sich um einen Neuanfang auf der „grünen Wiese“ handelt, ist es bei radikaler Veränderung nicht möglich zu „managen“, d.h. Ziele zu setzen und deren effiziente Umsetzung im Abgleich von Soll und Ist zu regeln. Management by Objectives ist bei radikaler Veränderung keine sinnvolle Option. Führung im Wandel verlangt die Akzeptanz fehlender Planbarkeit und die Fähigkeit zur professionellen Gestaltung ergebnisoffener Prozesse. In der Konsequenz ergeben sich zwei Königswege der Veränderung für Unternehmen: Reflexion und Faszination. Bange machen, gilt nicht. Absichtsvoll erzeugte Angst erhöht Kreativität nur kurzfristig und führt eher zu Regression oder Mimikry als zu echter Erneuerung. Veränderungsbereitschaft ist eine Frage der Einsicht in aktuelle Notwendigkeiten und der Aussicht auf zukünftige Chancen. Es geht darum, die emotionale und rationale Attraktivität eines zusätzlichen Energieaufwandes zu erhöhen, den alle Beteiligten im Grunde gerne vermeiden würden. Ohne individuelle und kollektive Investitionsbereitschaft bleibt alles beim Alten.

Sie haben in verschiedenen Interviews geäußert, dass Unternehmen die Frage nach dem mehrwertgenerierenden Geschäftsmodell aus dem Auge verlieren. Was meinen Sie damit?

Mit der durch die globalen Netzwerke erzeugten neuen Dimension des Wandels ist ein unternehmerischer Möglichkeitsraum entstanden, der ständig für Überraschungen gut ist. Die Spielregeln des Wirtschaftens haben sich geändert und letztendlich stehen alle Geschäftsmodelle auf dem Prüfstand. Nehmen wir das Beispiel Handel. Noch ist völlig unklar, wie sich das Kaufverhalten der Konsumenten in den nächsten Jahren entwickeln wird. Der neu hinzugekommene Vertriebskanal Internet lässt auch hier kaum einen Stein auf dem anderen. Hersteller gehen direkt auf die Endverbraucher zu. Der stationäre Einzelhandel ist auf der Suche nach einer neuen Identität zwischen Beratungsdienstleistung und Kauferlebnis. Onlineshops irritieren nachhaltig das Preisgefüge im Markt. Der Multichannel-Vertrieb lässt die Anforderungen an Logistik explodieren. Die Situation ist janusköpfig: einerseits schießen die Chancen für innovative Geschäftsmodelle wie Pilze nach dem Regen aus dem Boden, andererseits wachsen Risiken für die etablierten Geschäftsmodelle. Unternehmenslenker tun gut daran, die Entwicklungen in Markt und Gesellschaft im Blick zu behalten und sich nicht zu sehr auf ihr Tagesgeschäft zu konzentrieren. Ohne intensive Reflektion und datengestützte Einsicht in Zusammenhänge ist die Gefahr groß, in der Gegenwart zu scheitern oder die Zukunft zu verpassen. Es ist schwer vorstellbar, dass es eine Branche gibt, für die das heute nicht gilt. Die Insel der Seligen ist mehr denn je ein mythischer Ort.

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